Wien – Als "brandgefährlich" bewertet Vizekanzler Reinhold Mitterlehner die Situation in der Türkei. "Die Aushöhlung des Rechtsstaats" mache ihm Sorgen, sagt der ÖVP-Chef im 2+1-Gespräch mit dem STANDARD und hält das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei für gefährdet: "Ob das Abkommen haltbar ist, wenn alles so weiterläuft, ist nicht absehbar." Es sei denkbar, dass bald Asylwerber aus der Türkei selbst kämen.


STANDARD: Sie haben aus Ärger über Politiker einmal angeregt, einen "Tag des nassen Fetzens" einzuführen. Für die Regierungsparteien hat's den eigentlich schon gegeben – bei der Präsidentenwahl. Sind SPÖ und ÖVP zu Recht bei so vielen Menschen unten durch?

Palm: Da hat es schon die Richtigen erwischt. Das Land ist ja seit 70 Jahren mehr oder minder im Würgegriff von SPÖ und ÖVP, die Wahl war ein regelrechter Akt der Verzweiflung. Bitter ist nur: Gleichzeitig hat ein Politiker die Bühne betreten, der den größten nassen Fetzen verdient hätte.

Mitterlehner: Hebt man die Debatte auf eine etwas seriösere Ebene, wird man feststellen, dass das Phänomen nur wenig mit den heimischen Verhältnissen zu tun hat. In ganz Europa ist die etablierte Politik der Sündenbock für die gehäuften Unsicherheiten und zum Teil nicht steuerbaren Entwicklungen. Der Aufhänger war das Flüchtlingsdrama, für das keine Partei ein Patentrezept haben kann. Dass wir da in der Kommunikation einen Teil zum Unmut beigetragen haben, mag sein.

Palm: Diese Erklärung ist mir zu simpel. Die Leute haben absolut kein Vertrauen mehr in gewisse demokratische Institutionen, weil sie das Gefühl haben, dass sie mit ihrer Stimme ohnehin nichts bewirken können. Nehmen wir die Freihandelsabkommen Ceta und TTIP her. Warum wird so etwas jahrelang hinter verschlossenen Türen verhandelt? Kein Wunder, wenn viele die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen: Die Politiker machen sowieso, was sie wollen.

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Mitterlehner: Ja, die Geheimhaltung war ein Fehler der EU und der USA. Aber nun können die Parlamentarier in die Unterlagen Einsicht nehmen – und die meisten sind völlig unspektakulär.

Palm: Sie haben sich ja dafür eingesetzt, dass über Ceta auch die nationalen Parlamente abstimmen müssen ...

Mitterlehner: ... ja, weil ich für Treu und Glauben stehe.

Palm: Werden Sie dafürstimmen?

Mitterlehner: Meine Linie ist: erst anschauen, inhaltlich abwägen, dann eine Entscheidung treffen.

Palm: Das heißt: Sie sind dafür.

Mitterlehner: Ich sehe auch kritische Punkte, halte es aber für unsachlich, auf Verdacht mit Nein zu antworten. Das ist genau das Problem daran, wie Debatten heute geführt werden: Alles wird derart emotionalisiert, dass eine nüchterne Abwägung kaum möglich ist. Post-Fact-Democracy nennt man das: Da wird eine Entscheidung getroffen, und erst hinterher setzt man sich mit den Fakten auseinander – siehe Brexit.

Palm: Die Ängste, dass die Großkonzerne noch mehr Macht kriegen, sind ja nicht irrational.

Mitterlehner: Sie sitzen da einem Vorurteil auf. Konzerne wie Coca-Cola oder Siemens haben längst internationale Niederlassungen, die brauchen solche Abkommen gar nicht unbedingt.

Palm: Sie kommen ja aus Helfenberg im Mühlviertel. Gab es da nicht einmal eine lebendige Textilindustrie?

Mitterlehner: Ja, die größte Textilfabrik in Oberösterreich.

Palm: Heute ist die Textilindustrie in Österreich fast tot, alles in Händen internationaler Konzerne.

Mitterlehner: Irgendwann gab es auch Unternehmen, die Ritterrüstungen erzeugt haben und dabei 100 Prozent Marktanteil hatten. Natürlich kann ich eine Philosophie verfolgen wie einst Albanien und versuchen, sich bei bescheidenem Lebensstandard selbst zu genügen, aber meine Vision ist das nicht. Österreich ist so klein, dass wir vom Export leben müssen. Warum sollen von Freihandelsabkommen da nur die Großkonzerne profitieren?

Palm: Es liegt auf der Hand, dass jene, die über das Kapital verfügen, sich dank ihrer Macht Vorteile herausschlagen. Nicht zufällig zahlen viele große Konzerne dank unzähliger Tricks in EU-Staaten kaum Steuern.

Mitterlehner: Das hat mit den Handelsabkommen nichts zu tun ...

Palm: ... ist aber symptomatisch. Auf diese Art der Politik sind viele unglaublich sauer, das treibt die Leute in die Arme der Populisten.

Kurt Palm hat schlechte Nachrichten für den VP-Chef: "Der Kapitalismus wird implodieren", sagt er, doch Reinhold Mitterlehner bleibt ungerührt: "Soweit ich weiß, ist bisher nur der Kommunismus implodiert."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Kurt Palm hat schon einmal für die KPÖ kandidiert. Haben Sie nicht einmal in Ihrer Jugend mit linken Ideen geliebäugelt, Herr Vizekanzler?

Mitterlehner: Ich komme aus einer einfachen Beamtenfamilie und habe gelernt, dass man mit Leistung und Bildung relativ viel erreichen kann. Jene, die nicht mitkommen, sollen gestützt werden, aber es gilt auch Eigenverantwortung. Jeder hat es bis zu einem Ausmaß selbst in der Hand, sein Leben zu gestalten.

Palm: Dass Sie das so sehen, wundert mich nicht, Sie haben in einer Partei Karriere gemacht. Meine Erfahrung ist eine andere: Wer nicht zu SPÖ oder ÖVP gehörte, hatte einen ungleich schwereren Weg vor sich. Wenn du zu meiner Zeit einen Platz im Schüler- oder Studentenheim wolltest, hast du die Empfehlung einer Partei gebraucht. Dieser Würgegriff, von dem ich eingangs gesprochen habe, hat sich gelockert, aber noch lange nicht gelöst. Vor ein paar Tagen habe ich mit Lehrlingen geredet, die eine Stelle suchten – ohne Beziehung geht da nix. Ich kenne auch viele Lehrer, die am Gängelband der Parteien hängen.

Mitterlehner: Das halte ich für schwer übertrieben. Bestes Gegenbeispiel ist Irmgard Griss. Die behauptet immer, man werde als Unabhängige nichts, war aber selbst Präsidentin des Obersten Gerichtshofs. Die Parteibuchwirtschaft hat sich überlebt.

Palm: Aber geh, Sie sind aus Oberösterreich, da muss ich Ihnen doch nichts erzählen, und auch Erwin Pröll kennen Sie gut. Nicht umsonst gibt es den Reim: Kim Jong-un – von Radlbrunn.

Mitterlehner: Einen Politiker mit derart guten demokratischen Ergebnissen mit einem Diktator zu vergleichen halte ich selbst bei einem Künstler für sehr gewagt.

STANDARD: Die ÖVP propagiert die soziale Marktwirtschaft ...

Mitterlehner: ... wobei der Markt vor dem Sozialen kommt. Leisten kommt vor Verteilen.

STANDARD: Ist Ihnen das schon zu neoliberal, Herr Palm?

Palm: Soziale Marktwirtschaft ist ein Widerspruch in sich. Der Markt gewinnt immer mehr an Oberhand, wir steuern auf eine große Krise zu. Ich habe schlechte Nachrichten für Sie: Der Kapitalismus wird implodieren – noch nicht jetzt, aber irgendwann.

Mitterlehner: So weit ich weiß, ist bisher nur der Kommunismus implodiert.

Palm: Der Kapitalismus wird so nicht weitergehen, weil er zu immer mehr Ungerechtigkeiten und Krisen führt. Man muss die Zusammenhänge sehen: Deutschland etwa hat im letzten Jahr die Rüstungsexporte verdoppelt. Das facht Kriege an, da braucht man sich über eine globale Flüchtlingsbewegung nicht zu wundern.

Mitterlehner: Ich sehe ja die Probleme, etwa dass die Finanzwirtschaft die Realwirtschaft an Volumen überflügelt hat. Aber der Kapitalismus als monokausale Begründung für die Flüchtlingsbewegung scheint mir sehr weit hergeholt. Die positiven Ergebnisse des Kapitalismus in Europa sind viel mehr ein Anziehungsfaktor.

Die türkischen Demos hätte gezeigt, "dass es da eine Parallelgesellschaft gibt", urteilt Mitterlehner, Palm stimmt zu: "Wiener Lehrer erzählen mir von 14-Jährigen Mädels, die den Groß-Cousin heiraten sollen."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Gerade in der Flüchtlingsfrage wirken viele Linke ratlos. Ist der verschärfte Kurs der Regierung angesichts des Andrangs denn alternativlos?

Palm: Sicher nicht. Im Frühjahr 1946 lebten allein in Oberösterreich 153.000 Flüchtlinge. Da ist es absurd, wenn jetzt bei 37.500 Asylwerber ein Notstandsgesetz in Kraft treten soll.

Mitterlehner: Selbst Kardinal Christoph Schönborn hat im Standard auf einen entscheidenden Unterschied hingewiesen: Die Leute kamen damals großteils aus dem gleichen Kulturkreis wie wir. Das ist heute anders. Mein Heimatort beherbergt 40 Flüchtlinge, ich sehe, wie schwierig das ist. Alle bemühen sich um Integration, aber diese Menschen haben nicht denselben Lebens- und Arbeitsrhythmus. Wenn du einen Jugendlichen beschäftigen willst, hörst du mitunter: Nein, heute freut's mich nicht.

Palm: Für eine Schande halte ich, dass Oberösterreich die Mindestsicherung kürzt. Da verfügen Politiker, die im Jahr 230.000 Euro verdienen, dass Asylberechtigte mit 520 Euro im Monat leben sollen.

Mitterlehner: Das Ziel ist, Flüchtlinge zu motivieren, nicht in Untätigkeit zu verharren. Ob das hilft, darüber kann man streiten.

Palm: Entschuldigen Sie, aber das war eine rein populistische Agitation der FPÖ – und die ÖVP ist aufgesprungen.

STANDARD: Die EU baut darauf, dass ihr die Türkei Flüchtlinge abnimmt. Ist dieses Abkommen, das die Türkei als sicheren Rechtsstaat definiert, seit der Säuberungswelle gegen vermeintliche Oppositionelle noch haltbar?

Palm: Es ist unfassbar, dass die EU das Abkommen mit der Türkei nicht sofort gekündigt hat.

Mitterlehner: Die Aushöhlung des Rechtsstaats macht mir natürlich Sorgen. Ob das Abkommen haltbar ist, wenn alles so weiterläuft, ist nicht absehbar. Die Entwicklung im Land ist brandgefährlich, momentan nicht beurteilbar und nicht steuerbar – wer weiß, ob demnächst nicht die ersten Flüchtlinge aus der Türkei selbst kommen. Aber auch die religiös und nationalistisch geprägten Kundgebungen in Österreich machen mir Sorgen. Es muss klar sein: Wer bei uns lebt, muss sich an die Spielregeln eines strikt säkular ausgerichteten Staates halten. Die Demonstrationen haben gezeigt, dass es da eine Parallelgesellschaft gibt.

Palm: Ja, diese Tendenzen gibt es tatsächlich in beträchtlichem Ausmaß. Wiener Lehrer, in deren Klassen von 25 Kindern 24 Migrationshintergrund haben, erzählen mir von 14-jährigen Mädels, die den Großcousin heiraten sollen. Es gibt auch in Österreich geborene Schüler, die nicht g'scheit Deutsch können. Da frage ich mich, warum das so ist? Offenbar versagen die Institutionen.

Zwei Fußballfans erklären das EM-Debakel. Zuviel gefeiert und vermarktet, analysiert Mitterlehner, Palm sagt: "Die Ankündigungen waren gewaltig, die Ergebnisse kläglich: Da gibt es viele Parallelen zur Politik."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Es heißt, Sie seien doch ein Linker, Herr Vizekanzler – und zwar beim Fußball.

Mitterlehner: Ja, Linksaußen sogar – aber davon bitte keine politische Einstellung ableiten!

STANDARD: Frage an die Experten: Warum hat Österreich bei der Fußball-EM derart versagt?

Mitterlehner: Die Österreicher haben die Qualifikation so ausgiebig gefeiert und vermarktet, dass man eine Kleinigkeit aus den Augen verloren hat: das eigentliche Ereignis.

Palm: Man fuhr als Europameister nach Frankreich und kehrte als Drittletzter zurück – ein typisch österreichisches Schicksal. Die Ankündigungen waren gewaltig, die Ergebnisse kläglich: Da gibt es viele Parallelen zur Politik. (Gerald John, 22.7.2016)