Eigentlich müsste es in Österreich eine Demonstration nach der anderen geben: Wenn es all jenen, die nach dem Putschversuch in der Türkei auf die Straße gegangen sind, tatsächlich, wie behauptet, um den Fortbestand der Demokratie gegangen wäre, hätten sie nach den Ereignissen der vergangenen Tage allen Grund zu demonstrieren: In der Türkei werden Grund- und Menschenrechte außer Kraft und Journalisten unter Druck gesetzt, die Gewaltenteilung wird aufgehoben, und offensichtlich Unliebsame werden vom Dienst suspendiert oder gar verhaftet.

Dass 21.000 Lehrerinnen und Lehrer, 15.200 Mitarbeiter im Bildungsministerium sowie 2700 Staatsanwälte und Richter in den Putschversuch involviert gewesen sind, vermag niemand zu glauben. Insgesamt wurden mehr als 10.000 Menschen verhaftet und mehr als 65.000 aus ihren Positionen entfernt. Sie alle haben ein Recht auf ein faires Ermittlungs- und Gerichtsverfahren. Aber angesichts der jüngsten Regierungsentscheidungen bestehen erhebliche Zweifel, ob ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit in diesem Land noch gewährleistet ist.

Länger verfolgte Vorstellungen

Präsident Recep Tayyip Erdogan hat offensichtlich die Gelegenheit zu Säuberungen in seinem Sinne genutzt. Historische Vergleiche drängen sich auf. Ob der Putsch vorschnell gestartet oder gar von Erdogan inszeniert wurde, wird sich vielleicht nie ganz aufklären lassen. Aber es kommt Erdogan entgegen, dass er nun unter Verweis auf den Putschversuch den Umbau des Staates nach seinen schon länger verfolgten Vorstellungen rasch vornehmen kann. Dass Akademikern die Ausreise verweigert wird, ist ein Verhalten, das aus Diktaturen bekannt ist. Ob sich die Türkei zu einer Präsidialdiktatur oder einem autoritär regierten Staat entwickelt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.

Dass österreichische Politiker – allen voran Bundeskanzler Christian Kern und Außenminister Sebastian Kurz – im Vergleich zu Repräsentanten aus anderen EU-Ländern verhältnismäßig scharf reagiert haben, war auffällig. Die Zitierung des türkischen Botschafters ins Außenministerium entspricht üblichen Gepflogenheiten und war ein richtiges Signal, ebenso das Gespräch mit islamischen Vertretern im Kanzleramt.

Regeln sind einzuhalten

Das Demonstrationsrecht in Österreich gilt für alle. In einem Rechtsstaat sind jedoch Regeln einzuhalten: etwa, dass eine Veranstaltung angemeldet und genehmigt sein muss. Da das nicht der Fall war, sind Anzeigen gegen Veranstalter logische Konsequenzen – auch die Demolierung eines kurdischen Lokals muss geahndet werden. Im Lichte der jüngsten Ereignisse sollte auch die Förderung AKP-naher Organisationen oder Veranstaltungen mit Mitteln aus Steuergeldern hinterfragt und überprüft werden. Wer universal geltende Rechte infrage stellt, hat kein Anrecht auf staatliche Unterstützung.

Das sollte auch auf EU-Ebene gelten: Die Türkei hat von der EU die während Beitrittsverhandlungen übliche sogenannte Heranführungshilfe erhalten. Zwischen 2007 und 2013 waren dies 4,8 Milliarden Euro. Diese Unterstützung sollte ausgesetzt werden, bis klar ist, für welchen Weg sich Erdogan entscheidet.

Die EU hat ein Eigeninteresse an einer stabilen Türkei, darf aber deshalb von eigenen Wertemaßstäben nicht abrücken und wegen des Flüchtlingspakts erpressbar erscheinen. Sonst haben nicht nur Erdogan-Anhänger ein Glaubwürdigkeitsproblem. (Alexandra Föderl-Schmid, 22.7.2016)