STANDARD: Wie hängen gesellschaftliche Rollenbilder und Erkrankungen von Frauen zusammen?

Wimmer-Puchinger: Rollenstereotype haben eine wichtige Bedeutung in der Medizin, sie dienen zur Definition von Gesundheit und Krankheit. Die Bedeutung soziokultureller Faktoren in der Entwicklung von psychischen Erkrankungen sind nicht zu unterschätzen. Ein Beispiel: In Peru werden Suizide als Ausdruck der Schwäche gesehen und Frauen zugeordnet, die ihre Emotionen nicht kontrollieren können – dort ist der Suizid tatsächlich auch primär ein weibliches Problem. Biologisch begründen lässt sich eine höhere Rate von Depressionen bei Frauen allerdings nicht: Studien zeigen keine Unterschiede in genetischer Prädisposition und die weiblichen Hormone üben eher einen antidepressiven und psychoprotektiven Einfluss aus.

Karin Gutiérrez-Lobos (Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, links) und Beate Wimmer-Puchinger (Klinische- und Gesundheitspsychologin).
Foto: HO

STANDARD: Was sind konkret krankmachende Bedingungen für Frauen? Was lässt sich isoliert heraus nehmen?

Gutierrez-Lobos: Unser Buch spricht primär nicht von Krankheit, Störung, sondern zunächst von Krise, die als Wendepunkt zum Besseren oder Schlechteren verstanden werden kann. Krise bedeutet Bruch in Kontinuität und Normalität unseres Lebensverlaufes. Konkret: Alleinerziehende sind beispielsweise gesundheitlich stärker belastet und verhalten sich gesundheitsrikanter – dort ist Armut besonders häufig. Öffnet man den Blick darauf, dann ergeben sich konkrete Ansatzpunkte für die Politik. Es sind ja nicht die Kinder an sich sondern es sind die Umstände, die zur Belastung beitragen. Neben den sozialen Bedingungen spielt Gewalt – und die Weltgesundheitsorganisation spricht in diesem Zusammenhang von epidemischen Ausmaßen – als wesentliches Gesundheitsrisiko für Frauen eine große Rolle. Jede fünfte Frau in Österreich hat seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewaltr erlebt. Frauen sind besonders im sozialen Nahraum und in ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen sowie bei Pflegebedürftigkeit und Behinderung einem besonders hohen Risiko von Gewalt ausgesetzt. Es wird nach wie vor in seinen Folgen und Auswirkungen unterschätzt, wie weitreichend und lange wirkend solche Erfahrungen sind.

Wimmer-Puchinger: Gesundheit kann nur partiell individuell gesehen und gestaltet werden. Hier hat die Frauengesundheitsforschung die Wissenschaft tatsächlich verändert: Sie hat gezeigt, dass gesellschaftliche Bedingungen und Machtverhältnisse quasi auf den Körper projeziert werden und dies Konsequenzen für Männer und Frauen hat.

STANDARD: Apropos Macht: "Es gehören zwei dazu, einer der es tut und einer, der es zulässt" – so wird gerne argumentiert von schlechterer Bezahlung für Frauen bis zu sexuellen Übergriffen ...

Gutierrez-Lobos: Ja, das ist ein gängiges Argument. Tatsache ist aber etwa beim Einkommen, dass auch bei virtuellen "Zwillingspaaren" die Frauen alleinig aufgrund ihres Geschlechts weniger verdienen. Bei Gewalt gegen Frauen kommt es oft zur Verzerrung der Täter-Opfer-Perspektive. Der Vorwurf "selbst schuld" hat eine lange historische Entwicklung – es gab ja lange etwa das Delikt Vergewaltigung in der Ehe nicht. Wie die nun bestehenden Gesetze, die Gewalt und Benachteiligung von Frauen am Arbeitsplatz untersagen, angewendet werden, ist genau anzusehen, denn es geht in all den Fällen um Macht und Ausübung von Macht – und die ist nach wie vor ungleich verteilt. (Karin Bauer, 28.7.2016)