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Die Spratly-Inseln (chinesisch: Nansha) in Südchinesischen Meer im Jahr 2015.

Foto: Reuters

Urlauber aus der Volksrepublik China halten an Vietnams internationalem Grenzübergang Mong Cai den Betrieb auf. Bis zu 3.000 Chinesen kommen hier täglich durch. Doch seit kurzem durchforsten Grenzbeamte ihre Pässe dahingehend, ob darin ein Visum eines vietnamesischen Konsulats klebt. Das wäre fatal, wenn es sich um einen der neuen Reiseausweise der Volksrepublik handelt, die seit Mai 2012 im Umlauf sind. Die Beamten müssten es ungültig stempeln. Nur wenn das Visum auf einem Extrablatt ausgestellt ist, lassen sie den Besucher einreisen. Das dauert.

Der Passstreit Chinas mit Vietnam und den Philippinen gärt seit 2012, nun ist er erneut ausgebrochen. Der Ständige Schiedshof in Den Haag hatte der Volksrepublik das Recht abgesprochen, das gesamte Südchinesische Meer innerhalb einer Neun-Strich-Linie (Nine-Dash-Line) für sich beanspruchen zu können. Stein des Anstoßes wurde, dass ausgerechnet diese gestrichelte Linie in den Reisepässen auf den Seiten 8, 24 und 46 eingeprägt ist. Über die Nine-Dash-Line meldet Peking seinen Anspruch auf mehr als 80 Prozent des 3,5 Millionen Quadratkilometer großen Meeres an. Die Begrenzung führt U-förmig an der Küste von Vietnam, den Philippinen, Malaysia, Brunei und Indonesien vorbei und beschneidet deren Rechte. Vietnam und die Philippinen weisen diese Grenzziehung zurück. Sie tun das mit noch mehr Nachdruck, seit sie von Den Haag recht bekommen haben.

Auf Elf-Punkte-Linie erweitert

Chinas staatliche Nachrichten-Webseite "Pengpai" (The Paper) beschwerte sich über die Schikanen an der Grenze. Der Ärger mit den Pässen ist nur ein Stellvertreterkonflikt für die nach dem Schiedsspruch gestiegenen Spannungen. Chinas Regierung heizt sie noch an. Sie verdammte das Urteil als "null und nichtig", als "politische Farce", hinter der die USA und Japan stünden, und denunzierte das Gericht als "befangen und bestochen". Pekinger Tageszeitungen erschienen am Tag nach dem Urteil mit demonstrativen Titelseiten, auf denen die Nine-Dash-Line abgebildet war. Die "Peking-Morgenzeitung" erweiterte sie gar zur "Grenzlinie mit elf Punkten".

Das war sie anfangs auch. Die Sprecherin von Chinas Parlament, Fu Ying, und der international anerkannte Seerechtsexperte Gao Zhiguo erklärten nach Pekinger Lesart die Herkunft der ominösen Grenzziehung: Chinas Kuomintang-Nationalregierung (KMT) hatte nach Japans Kapitulation 1945 alle von Tokio zuvor besetzen Seestützpunkte und Inseln im Südchinesischen Meer zugesprochen bekommen. Grundlage waren die Abkommen der Alliierten von Kairo (1943) und Potsdam (1945). 1947 ließ das KMT-Innenministerium 159 (nach Gao 172) Inseln, Riffe und Sandbänke im Meer vermessen, registrieren und neu benennen. Das Ministerium ließ einen internen Atlas der territorialen Gewässer publizieren und um sie herum eine "Elf-Punkte-Linie" zeichnen. Fu Ying schreibt, dass weder die USA noch Anrainerstaaten Einspruch erhoben, obwohl sie "sicher davon wussten. Es ist offensichtlich, dass sie Chinas Haltung dazu anerkannten."

1949 übernahm die Volksrepublik in Rechtsnachfolge die Ansprüche über das Meer. Sie zog die Nine-Dash-Line (also neun und nicht elf Striche) darum, nachdem sie 1953 die beiden letzten "Punkte" vor Vietnams Küste und vor dem Golf von Tonkin gestrichen hatte. Wegen der damals "guten Beziehungen", schreibt Gao Zhiguo.

Potenzielle Kriegsdrohung

Chinas Anspruch auf die Nine-Dash-Line um das Südchinesische Meer, von der es seine Berechtigung ableitet, dort tun und lassen zu können, was es will, wird heute von seinen Nachbarstaaten als potenzielle Kriegsdrohung angesehen. Daher versichert Peking, dass die Freiheit der Navigation für die Handelsseefahrt nicht tangiert sei und es bereit ist, alle Probleme mit den Anrainerstaaten bilateral auszuhandeln. Doch es beansprucht zugleich die absoluten Besitzrechte über alle Inseln und Gewässer.

Zur Abschreckung der Anrainerstaaten und als Warnung an die USA, sich nicht einzumischen, organisierte China nach dem Schiedsspruch dreitägige Seemanöver im Südchinesischen Meer. Es ließ Flugzeuge auf seinen seit zwei Jahren zu künstlichen Inselplattformen aufgeschütteten Riffen im Nansha-(Spratly-)Gebiet landen und einen Bomber darüberfliegen.

China spielt auf Zeit

Schwere Provokationen sind von Peking nicht zu erwarten. China will trotz des Urteils vor allem seinen bisherigen Status schützen und geht nur Schritt um Schritt vor. Es spielt auf Zeit, bis es genug Einfluss und militärische Kraft besitzt, die Lage zu seinen Gunsten zu verändern. Nach 2020 könnte es so weit sein. Am Freitag veröffentlichten Chinas Medien einen neuen mehrseitigen Beschluss der drei mächtigsten Gremien des Landes. Zentralkomitee, Staatsrat und Zentrale Militärkommission modernisieren ihre Militärdoktrin. Statt "gleichgewichtiger Entwicklung von Militär- und Wirtschaftsaufbau" will Peking bis 2020 Militär und zivilen Wirtschaftsaufbau "miteinander verzahnt entwickeln". Durch Integration soll es zu mehr Synergien und Innovationen für beide Bereiche kommen. Eines der "strategischen Ziele" ist, eine starke Marine aufzubauen, die die Ozeane erschließen, ihre maritime Macht verteidigen und Chinas überseeische Interessen schützen kann.

Wie weit China im Südchinesischen Meer davon noch entfernt ist, verriet "China Daily". Sie meldete stolz den Anschluss der weit über 1.000 Kilometer entfernten künstlichen Inseln Chinas an das 4G-Internet der chinesischen Telekom als Zeichen dafür, wie tief China im Meer Fuß gefasst hat. Die Ingenieure klagten aber, dass sie 60 Schiffsstunden bräuchten, um von Hainan aus zu den Inseln zu kommen. Sie hätten Probleme, eine stabile Stromversorgung für die 4G-Station aufzubauen und diese auf den immer wieder von Meerwasser überfluteten Riffen vor Korrosion zu schützen. (Johnny Erling aus Peking, 29.7.2016)