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Das Atomkraftwerk Isar in Niederbayern: In England sollen bald zwei neue Kraftwerke stehen.

Foto: dpa / weigel

Paris – Ist Hinkley Point C die "Zukunft der französischen Nuklearbranche" – oder ihr "Todesstoß"? Selten gingen die Meinungen weiter auseinander als beim Grundsatzentscheid über den Bau eines französischen Druckwasserreaktors an der Südwestküste Englands. Einigkeit herrscht nur, dass die dritte Ausbaustufe der britischen Nuklearanlage – nach den bestehenden Meilern A und B – pharaonischen Ausmaßes ist: Sie soll ab 2025 mehr als 3.200 Megawatt Strom produzieren und sechs Millionen Briten damit versorgen. Ihre Kosten belaufen sich nach jetzigem Stand auf umgerechnet 21,5 Milliarden Euro.

Der Verwaltungsrat der Electricité de France (EDF) hat am Donnerstagabend trotzdem den endgültigen Startschuss zu dem Bau gegeben. Hinkley Point C verkörpere "einen einzigartigen Trumpf für die französische Industrie", meint der Staatskonzern in einer Aussendung. "Er nützt der gesamten Nuklearkette und den Arbeitsplätzen der Konzerne sowie den Klein- und Mittelunternehmen der Branche." Experten schätzen, dass der Doppelreaktor – häufig als "AKW der dritten Generation" bezeichnet – während der Bauzeit von 2019 bis 2025 insgesamt 25.000 Stellen schaffen wird, davon den Großteil vor Ort, aber auch 4.000 in Frankreich.

Hollande und May mit Nachdruck

Das war mit ein Grund, warum sich der französische Präsident François Hollande und die neue britische Premierministerin Theresa May zuletzt in Paris mit Nachdruck für den Bau von Hinkley Point C aussprachen. Der britische EU-Austritt soll an dem Projekt, an dem die China General Nuclear Power (CGN) teilnimmt, nichts ändern. Allerdings kam kurz nach der EDF-Bekanntgabe eine erhebliche Einschränkung aus London: Energieminister Greg Clark erklärte, Hinkley Point müsse vor einer endgültigen Entscheidung sorgfältig abgewägt werden.

Äußerst kritisch sehen viele der 160.000 Angestellten von EDF das Projekt. Ihr Finanzdirektor Thomas Piquemal war aus Protest gegen die finanzielle Unsicherheit rund um Hinkley Point schon im März zurückgetreten. Die Hausgewerkschaften sprachen am Freitag von einer "politischen Entscheidung". Aus ökonomischen oder finanziellen Überlegungen wäre Hinkley Point C nie gebaut worden, erklärte der mit Abstand führende Arbeitnehmerverband CGT-Energies. EDF übernehme sich damit und bedrohe so die Existenz des Unternehmens und zehntausende Arbeitsplätze.

Ein interner Bericht von EDF-Ingenieuren war zum Schluss gekommen, dass bereits eine Bauverzögerung von zwei Jahren Mehrkosten von vier Milliarden Euro verursachen würde. Die beiden in Bau befindlichen Druckwasserreaktoren französischer Konzerne – Areva in Olkiluoto (Finnland) und EDF in Flamanville (Normandie) – leiden wegen mehrjähriger Verzögerung bereits unter einer Kostenexplosion von vier auf zehn Milliarden Euro.

"Intellektueller Betrug"

Weil Hinkley Point zu riskant sei, klagt die CGT das Unternehmen sogar vor Gericht. "Zu behaupten, dass Hinkley Point die Nuklearbranche retten wird, ist intellektueller Betrug und ein politischer Fehler", schreibt die Gewerkschaft zur Begründung. Weiters hält sie fest, dass sogar die chinesische CGN, sonst nicht bekannt für industriepolitisches Zaudern, ihre Beteiligung an Hinkley Point C von geplanten 40 auf 33,5 Prozent gesenkt habe.

Der Entscheid des EDF-Verwaltungsrats, in dem der Staat die Mehrheit hat, hat nicht nur mit dem Arbeitsplatzargument zu tun. Die gesamte französische Atombranche kriselt wegen Missmanagements und einer Auftragsflaute seit dem Fukushima-Unglück. Areva und EDF haben seit Jahren kein AKW mehr ans Ausland verkauft; in den Arabischen Emiraten schnappten die südkoreanischen den französischen, zwischen Areva und EDF zerstrittenen Atomingenieuren sogar einen Vertrag über vier Kernkraftwerke für 18 Milliarden Euro vor der Nase weg. Mit Hinkley Point will sich die französische Branche einen neuen Leistungsausweis verschaffen.

Altes AKW soll stillgelegt werden

Das setzt allerdings voraus, dass das technische Fiasko mit den Druckwasserreaktoren in Frankreich und Finnland vermieden wird. Und vor allem, dass der französische Steuerzahler Hand anlegt. Vor einem Vierteljahr hatte EDF bereits eine Kapitalerhöhung ankündigen müssen, die auch der Staat zu berappen hatte.

Zudem muss sich die französische Regierung die Zustimmung von EDF zu Hinkley Point teuer erkaufen: Wie EDF-Vorsteher Jean-Bernard Lévy am Freitag sagte, hat er sich mit der Regierung auf die Abfindung für die Schließung des ältesten Atomreaktors Fessenheim (Elsaß) geeinigt. Diese Stilllegung kostet zweifellos Milliarden.

Hoch ist auch der politische Preis von Hinkley Point. Hollande wollte den Atomanteil an der nationalen Stromproduktion von 75 auf 50 Prozent senken, um die erneuerbaren Energien zu fördern. Hinkley Point tangiert dieses Wahlversprechen nicht direkt. Aber das Projekt zeigt, dass Frankreich weiterhin voll auf die Karte Atom setzt. (Stefan Brändle, 29.7.2016)