Seit dem Tod des Propheten Mohammed gestaltete sich das Verhältnis zwischen Staat und Religion in der muslimischen Welt äußerst spannungsreich, was daher rührte, dass der Staat und die religiösen Autoritäten einander niemals als Partner, sondern stets als wechselseitige Bedrohung wahrnahmen. Zur Sicherung ihres Gewaltmonopols setzten die Staaten auf zweierlei Strategie: Bekämpfung oder Verstaatlichung religiöser Betätigung. Eine nachhaltige Lösung dieses problematischen Verhältnisses ließ sich freilich weder mit der einen noch mit der anderen Vorgehensweise herbeiführen.

Das von Atatürk verfolgte Konzept, das darauf abzielte, die Religion samt ihren theologischen Grundlagen unverändert in die säkularisierten Strukturen des Staates zu integrieren, brachte es mit sich, dass theologische Strömungen, die sich dem damit verbundenen Anpassungszwang nicht beugen wollten, an den Rand der Gesellschaft abdrifteten und von dort aus ihren Kampf gegen den Staat aufnahmen.

Militär als Angriffsziel

Im Bewusstsein, dass die Macht des Staates sich vor allem an der Stärke seines Militärs bemisst, machten sie dieses zu ihrem Hauptangriffsziel. Da aber die Ablehnung des Militärs sich nicht theologisch begründen ließ – vor allem den türkischen Muslimen gilt das Militär als Haus des Propheten als sakrosankt –, blieb nur seine Eroberung durch die Soldaten des Propheten. Mit anderen Worten: Durch die Islamisierung des Militärs sollte der islamkonformen Zurichtung auch der übrigen staatlichen Strukturen der Weg geebnet werden.

Wiewohl Recep Tayyip Erdoğan und Fethullah Gülen (den Erdogan als Drahtzieher des Putsches verdächtigt, Anm.) unterschiedlichen religiösen Traditionen entstammen, besteht bezüglich der Zielsetzung der Islamisierung des Militärs zwischen beiden Einigkeit: Wer das Militär kontrolliert, kontrolliert das ganze Land. Die Milli-Görüs-Bewegung, Erdoğans religiöse Heimat, wollte dies durch parteipolitische Erfolge erreichen, wobei die Demokratie nicht als Endpunkt, sondern als Mittel zur Erlangung der Herrschaft galt. "Demokratie – das sind nur unsere Sohlen auf diesem steinigen, heißen Weg", lautete die Devise von Erdoğans geistigem Ziehvater Necmettin Erbakan. Erdoğan selbst war niemals und ist bis heute nicht von der Demokratie überzeugt, in der Forderung nach Demokratie sieht er vor allem eine von den westlichen Staaten ausgelegte Falle.

Ganz im Geiste der Erbakan-Tradition hält Erdoğan unbeirrt am Anspruch auf die Führung der muslimischen Gemeinde fest. Dessen Rechtfertigung allein mit politischen und wirtschaftlichen Erfolgen reicht für die Masse der Muslime, die ihn unterstützen, freilich nicht aus. In ihren Augen bedarf seine Herrschaft in erster Linie der religiösen Legitimierung, gilt er ihnen doch nicht nur als Chef einer Partei, sondern als spirituelle Leitfigur, die sich kraft ihrer Frömmigkeit des Beistands Gottes gewiss sein darf. Erdoğans Koranrezitationen, Gebetsrufe in den Moscheen und andere Bekundungen von Religiosität sind denn auch ein wichtiger Teil seines Herrschaftsprogramms. Auch in seinen Reden spielen mit religiöser Terminologie durchsetzte Phrasen wie Sterben für Gott und Heimat, Märtyrer, Kampf für die Belange der Muslime (vor allem der Palästinenser) eine zentrale Rolle. Die Bezeugung religiöser Gesinnung verlangt er auch seinen engsten Mitstreitern ab, indem er sie nach islamischen Ritualen den Treueid leisten lässt.

Gülens Wurzeln wiederum sind weniger in einer politischen Bewegung als vielmehr in der Tradition des Sufismus zu suchen. Dieser Tradition blieb er so lange treu, solange er seine Bildungsarbeit in einem eingeschränkten Rahmen betrieb. Erst mit der Ausweitung dieser Aktivitäten durch Gründung unzähliger Organisationen und Netzwerke ließ er seine eigentliche Tradition mehr und mehr hinter sich, um als internationaler Akteur handeln zu können. Nie jedoch verlor er dabei sein Hauptziel aus den Augen, nämlich die Islamisierung der staatlichen Strukturen, vor allem des Militärs.

Unbedingter Gehorsam

An ihm sollte er über 40 Jahre lang unter unterschiedlichsten politischen Verhältnissen unbeirrt festhalten, und tatsächlich hätte er es beinahe erreicht. Dies auch dank des unbedingten Gehorsams, der ihm, dem charismatischen Führer, von seinen Anhängern entgegengebracht wird, die in ihm einen mit wundersamen Kräften ausgestatteten Menschen sehen, der vor seinen Entscheidungen regelmäßig Zwiesprache mit dem Propheten hält und selbst über prophetische Fähigkeiten verfügt. Sogar der Bürgermeister von Ankara, eigentlich ein Gegner, sprach kürzlich voll Ehrfurcht davon, dass Gülen seine Herrschaft mithilfe von Dämonen sichere.

Vor dem Hintergrund der geteilten Zielsetzung und der Berufung auf dieselben theologischen Quellen wirft der Putschversuch die Frage auf, warum es zwischen beiden derartige Gegensätze gibt. Wären die Putschisten tatsächlich Unterstützer von Gülen, könnte Erdoğan dies doch recht sein – insofern, als damit garantiert wäre, dass im Militär endlich nicht die Säkularisten, sondern die Islamisten das Sagen hätten. Erdoğan selbst hatte das Wirken Gülens doch stets in höchsten Tönen gelobt und ihn sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene nach Kräften gefördert.

Alte Kader reaktivieren

Tatsächlich hat Erdoğan seine Strategie geändert und versucht nun, Gülens Ziele mithilfe anderer religiöser Akteure durchzusetzen. Seit langem ist zu beobachten, dass von Gülen-Anhängern geräumte Stellen mit vor allem Milli Görüs und anderen religiösen Stiftungen nahestehenden Leuten besetzt werden. Eine Analyse der UETD-Zentralen in Europa zeigt, dass Erdoğan sich anschickt, seine alten Kader aus Milli Görüs und diversen Sufi-Organisationen zu reaktivieren, eine Entwicklung, die auch in Österreich zu beobachten ist: Hier werden unglaubliche Fördersummen ausgeschüttet, um neben Milli Görüs auch Sufi-Organisationen für die Arbeit der AKP zu gewinnen – so nimmt die Institutionalisierung beziehungsweise Politisierung der Sufi-Schulen in Österreich rasant zu. Daneben werden nicht nur von der Religionsbehörde Diyanet entsandte (Atib-)Imame vom türkischen Staat besoldet, sondern staatlich geförderte Imame aus der Türkei auch in anderen Organisationen untergebracht.

Es ist daher zu erwarten, dass nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei eine neue Phase der Islamisierung des Militärs mit weitreichenden Folgen einsetzen wird. Um seine Vorhaben umsetzen zu können, bedarf Erdoğan neben der politischen eben auch der religiösen Legitimation, mit der sich der Bevölkerung in den bevorstehenden wirtschaftlichen und politischen Krisen leichter Geduld und Entbehrung abverlangen lassen. Neben der Theologisierung der Herrschaft gilt es natürlich auch antiwestliche Ressentiments zu schüren, um die Menschen für die Verteidigung des Islams gegenüber seinen Feinden zu mobilisieren.

Dass Erdoğans Politik in absehbarer Zeit ein Ende findet, zeichnet sich nicht ab – würden die Menschen jedoch beginnen, den religiösen Legitimationsversuchen mit einer kritischen, aufgeklärten Haltung zu begegnen, und sich deren Tücken bewusst werden, hätte diese Politik nicht ein derart leichtes Spiel. (Ednan Aslan, 29.7.2016)