Redezeit beim Arzt wird in Minuten gemessen, ist aber im Vergleich zu Röntgen, CTs und MR schwer kalkulierbar, weil total patientenabhängig. Krankheiten sind mitunter schwierig zu verstehen: In Diskussion ist, ob die Diagnose die Dauer eines Arztgesprächs bestimmen soll.

Illustration: Blagovesta Bakardjieva

Montagfrüh, kurz vor 8.00 Uhr: Vor der Ordination von Peter Kufner, Allgemeinmediziner im Innsbrucker Stadtteil Pradl, steht die Menschenschlange bis knapp vor die Eingangstüre. Kufner hat im Hinterzimmer noch schnell einen Espresso getrunken, zieht seinen weißen Mantel an und kommt ins Wartezimmer, um den ersten Patienten zu begrüßen und ihn mit ins Besprechungszimmer zu nehmen.

In der Schlange schauen fast alle auf ihre Handys – bloß nicht reden müssen, bloß nicht angehustet werden, signalisieren sie und warten, bis sie von der Sprechstundenhilfe gefragt werden: "Rezept oder zum Herrn Doktor?" Im Hintergrund läutet das Telefon pausenlos, geduldig wird auch hier abgehoben und geholfen.

Zirka 70 Patienten pro Tag sieht Peter Kufner täglich, in Spitzenzeiten sind es manchmal sogar bis zu 200. Doch Kufner hat Routine und die Ruhe weg. Genauso sein Sohn Marcus, der seit Februar in der Ordination mitarbeitet. Er ist Wahlarzt für Innere Medizin. Ein Wahlarzt und ein Kassenarzt zusammen in einer Praxis? Schöner könnten sich die Vor- und Nachteile beider Seiten nicht präsentieren.

Keine Warteschlangen

Zuallererst: Marcus Kufner hat seine Wahlarztpraxis nicht ganz freiwillig als solche eröffnet: "Es ist gar nicht leicht, einen Kassenvertrag zu bekommen", sagt er. Kassenstellen für Innere Medizin sind rar, deshalb beginnen viele junge Mediziner übergangsweise als Wahlärzte, merken aber dann, dass diese Art zu praktizieren eigentlich sehr angenehm ist. "Man überlegt sich dann schon, ob ein Kassenvertrag wirklich Vorteile bringt, ich habe nun aber den für Allgemeinmedizin beantragt."

Noch hat Kufner junior eine ganze Stunde Zeit für jeden Patienten und ist überzeugt, dass genau das einer der Gründe ist, warum viele überhaupt zu ihm in die Wahlarztpraxis kommen. Die großen Vorteile gegenüber der Kassenpraxis: "Meist geplante Termine, wenig Wartezeit, dafür viel Zeit für notwendige Erklärungen zu Krankheit und Therapie.

Bezahlung nach Leistungskatalogen

Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger zählt 5400 "versorgungswirksame" Wahlärzte, das sind solche, die mehr als 1000 Euro pro Jahr abrechnen. Die Kostenerstattung für Wahlärzte steigt jedoch stetig. Es gibt zunehmend mehr Ärzte, die sich für diese Berufsform entscheiden.

Das Klischee vom reichen Wahlarzt, der sich seine Praxis wegen der vielen Zeit für Patienten ausgesucht hat, kann Arno Melitopulos, Generaldirektor der Tiroler Gebietskrankenkasse, aber so nicht bestätigen: "Viele bekommen anfangs keinen Kassenvertrag, einige möchten aber auch mit der ganzen Bürokratie nichts zu tun haben." Wer ein Vertragsverhältnis mit der Krankenkasse eingeht, schränkt sich in gewisser Weise selbst ein, stellt Melitopulos fest. Gezahlt wird, was in den Leistungskatalogen steht. Die Möglichkeit zu längeren Gesprächen und die freiere Honorargestaltung spielten für Wahlärzte deshalb sicherlich auch eine Rolle.

Schwierige Arbeitsbedingungen

"Einige der Wahlärzte hatten früher Kassenverträge, dann aber verloren sie irgendwann die Lust auf das Wälzen von Bewilligungs- und Verordnungsschreiben", fasst Johannes Steinhart, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Obmann der Bundeskurie niedergelassener Ärzte, die Situation zusammen.

Gerade Hausärzte würden in Bürokratie ersticken. "Der Hausarzt ist die niederschwelligste und schnellste medizinische Versorgung, aber seine Arbeitsbedingungen sind schlecht." Steinhart, selbst Urologe im elften Wiener Gemeindebezirk, wundert sich deshalb nicht über steigende Wahlarztzahlen, sondern bewundert sogar den Mut manch junger Ärzte, sich für eine "Medizin ohne Belastung" zu entscheiden.

Finanziell riskant

Das Eröffnen einer Ordination ist ein schwieriges und nicht zu unterschätzendes Unterfangen, vor allem finanziell, gibt Peter Kufner unumwunden zu: "Die Geräte, die man benötigt, um konkurrenzfähig zu sein, kosten ein Vermögen." Hinzu kommen Personalkosten, die Anschaffung und Installation der Einrichtungen für die E-Card sowie die Schwierigkeit, bauliche Auflagen zu erfüllen. Steinhart: "Finden Sie in Wien einmal eine barrierefreie Praxis, die Sie sich leisten können."

Kufner senior erklärt die Rechnung. "Man könnte sagen, dass sich eine Kassenpraxis ab einer Patientenzahl von 600 bis 800 pro Quartal finanziell erhält und der Arzt dabei auch noch etwas verdient." Mit dem erwirtschafteten Geld baue man aber noch lange kein Haus oder schaffe sich gar eine gesicherte Zukunft, schränkt er ein. "Eine Kollegin mit Kassenpraxis hat unlängst erzählt, dass erst mit 900 Patienten im Quartal die Ein- und Ausgaben in ihrer Ordination ausgeglichen waren", erzählt er. Man unterschätzt mitunter den finanziellen Aufwand, den eine Praxis mit sich bringt.

Wenn Kufner seniors Wartezimmer voll ist, merkt er das an der schlechten Stimmung jener, die ins Arztzimmer kommen. "Es gibt Patienten, für die muss ich mir einfach 20 Minuten Zeit nehmen, auch wenn das die Wartezeit der anderen verlängert", sagt er und hofft in solchen Situationen, dass der nächste Patient weniger Zeit braucht und in zwei Minuten wieder draußen ist. Zeit sei essenziell für den Behandlungserfolg, ist er überzeugt, "vielen ist schon dadurch geholfen, dass sie ihre Sorgen besprechen können".

Stärkung der Gesprächsmedizin

Auch Arno Melitopulos von der TGKK ist sich bewusst, dass das Gespräch in den Leistungskatalogen der Kassen unterbewertet ist, und versichert, dass die Stärkung der Gesprächsmedizin in den Verhandlungen mit der Ärztekammer ein wichtiger Punkt ist. "Als Sonderpositionen ist einiges dazugekommen", sagt er. Sonderpositionen sind Behandlungsanwendungen, die besser honoriert werden.

In der Kategorie "Diagnose- und Therapiegespräche" sind es beispielsweise "Gespräch mit Angehörigen von Demenzpatienten", das "Heilmittelgespräch" (mit Patienten, die verschiedene Medikamente einnehmen müssen. Anm.) oder das "psychosomatisch orientierte Diagnose- und Behandlungsgespräch", Letzteres ist für 20 Minuten angesetzt.

Allerdings: Sonderpositionen werden von den Krankenkassen gedeckelt. Das heißt: Der Allgemeinmediziner darf nur bei sechs Prozent seiner Patienten längere Gespräche verrechnen. Ist diese Grenze überschritten, haben die Patienten Pech.

Eine Frage der Honorare

All das sind Gründe, warum der so wichtige Beruf des Kassenarztes deutlich an Attraktivität verloren hat – Stellen nachzubesetzen ist vor allem in den Bereichen Kinder- und Jugendheilkunde sowie Psychiatrie schwierig geworden. Auch die allgemeinmedizinischen Praxen am Land erfreuen sich keiner großen Beliebtheit. Fünf Planstellen, allein in Tirol, sind vakant. "Auf dem Land 'kommt man als Arzt nicht aus', man muss 24 Stunden für seine Patienten da sein, da viele Allgemeinmediziner Frauen sind, bedeutet das eine Doppelbelastung", vermutet Kufner.

Wenn die Krankenkasse keine neuen Stellen schafft, spart sie sich Geld. Melitopulos weist darauf hin, dass sehr wohl neue Stellen geschaffen würden, die Ärztekammer sich aber des Öfteren aus Gründen der Erwerbstätigkeit gegen neue Planstellen sperrt. Doch Melitopulos verteidigt das "gut funktionierende System". Die Honorarordnung mit rund 776 Positionen, die alle zwei bis drei Jahre aktualisiert wird, gebe auch keine strengen Zeitvorgaben: "Das kann man nicht machen." Die Tarife darin seien "Durchschnittsabgeltungen", man bemühe sich, immer am neuesten Stand zu sein.

Zeit heilt

Auf die Frage, was Ärzte in Tirol verdienen, gibt es nur eine schriftliche Antwort: "Leider haben wir keine Informationen bezüglich des Einstiegsgehalts junger Ärzte und von Wahlärzten – aufgrund der individuellen Situationen ist eine seriöse Schätzung unmöglich."

Das Abrechnungssystem sei viel zu starr, kritisiert Ärztekammerpräsident Steinhart vehement. Für ihn ist es der Grund für das Kassenarztdilemma. "Jeder Arzt weiß, dass aufmerksames Zuhören in der Diagnostik und im Heilungsprozess ein Faktor ist", sagt er. Im Gegensatz zu auf Technologie basierten Untersuchungen wie Labor oder Röntgen sind sie aber nur schwer kalkulierbar und im Abrechnungssystem abbildbar. Er kritisiert diese "Logik der Planer".

Gegen Fließbandprinzip

"Man kann nun mal nicht schneller zuhören", zitiert Steinhart den deutschen Arzt und Medizinethiker Giovanni Maio. Er, Steinhart, stellt sich gegen das "Fließbandprinzip in der Medizin". Aufklärung über Behandlung und das Auseinandersetzen mit allfälligen Ängsten von Patienten seien wichtiger als organisatorische Logik, die der Grund für eine längst existierende Zwei-Klassen-Medizin ist.

"Ein Wahlarzt tut sich leichter mit Zuhören, er kann jede Minute verrechnen." Wer sich als Patient für einen Wahlarzt entscheidet, bekommt im besten Fall 50 bis 80 Prozent von der Krankenkasse zurückerstattet. "Allerdings keineswegs vom bezahlten Honorar, sondern lediglich vom Kassentarif", präzisiert Kufner und weiß, dass Patienten immer wieder schockiert sind, wie wenig Geld das ist. Die meisten Patienten, die zu seinem Sohn in die Praxis kommen, sind zusatzversichert.

Doch einen wirklichen Engpass in der Versorgung der Tiroler, darüber herrscht Einigkeit, sieht derzeit niemand. Noch nicht. Arno Melitopulos von der TGKK ist sich allerdings bewusst, dass es im Vertragssystem genug zu verbessern gibt. "Wir müssen ein Finanzierungs- und Managementsystem für Ärzte finden, weil man kann nicht sagen, dass jeder eine Stunde Zeit bekommt. Man muss also weniger für die Technologie und mehr fürs Gespräch bereitstellen", versichert er.

Wunschliste: Mehr Geld, weniger Bürokratie

Gut ist, dass die Menschen in Österreich laut Umfragen mit dem Gesundheitssystem noch zufrieden sind. Die Versorgung funktioniert. Auch für Johannes Steinhart ergänzen sich Wahl- und Kassenärzte, er warnt aber vor einem drohenden Engpass. Sein Vorschlag zur Vermeidung einer Krise: 1.400 zusätzliche Stellen für Kassenärzte in Österreich mit entsprechenden Rahmenbedingungen.

"Die Sozialversicherung kauft gewisse Leistungen zu gering ein und macht den Kassenarztberuf unattraktiv." Kufner junior in der Wahlarztpraxis informiert seine Patienten übrigens vor jedem Gespräch über die zu erwartenden Kosten und zeigt Alternativen auf, etwa Kassenärzte mit ähnlicher Expertise, wie er sie hat.

Wenn das Wartezimmer der Kufners leer ist und auch der ganze Bürokram in der Ordination erledigt ist, ist es meistens sieben Uhr abends. Oft gehen Vater und Sohn dann noch ins gegenüberliegende Kaffeehaus und lassen die Probleme des Tages Revue passieren. Was könnte eine Kassenarztstelle für junge Mediziner wieder attraktiver werden lassen? Da muss keiner lange überlegen. "Eine zeitgemäße Honorierung und eine Reduktion des bürokratischen Aufwands", sagen die beiden wie aus einem Mund. (Johanna Schwarz, CURE, 25.11.2016)