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Organe lassen sich schon lange dreidimensional darstellen, aber auch Vorgänge in Zellen haben eine räumliche Komponente, die bei der Medikamentenentwicklung eine Rolle spielt.

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Die Reise eines Medikaments durch den Körper ist mit Hindernissen verbunden – Forscher arbeiten mit 3-D-Modellen auf molekularer Ebene.

Illustration: Blagovesta Bakardjieva

Michael Reutlinger sitzt vor seinem Rechner. Er tüftelt – meist an mathematischen Formeln. Er konstruiert, modelliert und optimiert. Bis es – hoffentlich – passt. Das ist seine Aufgabe beim Schweizer Pharmakonzern Roche. Im Headquarter in Basel bespricht er seine Ergebnisse mit Biologen, Chemikern und Pharmazeuten. Gemeinsam konstruieren sie Wirkstoffe, nicht im Labor, sondern am Rechner. Computational Drug Design nennt man diese Arbeit. "Sie steht heute vor jedem Test an Zellen und weit vor jedem Tierversuch", sagt Reutlinger.

Zu seinen Aufgaben gehört es, die Wirkstoffe der Zukunft virtuell möglichst passgenau zu ihrem Ziel zu leiten – ohne dass sie auf ihrem Weg durch den Körper Orte finden, an denen sie gefährliche Nebenwirkung entfalten könnte. "Ein neues Medikament", sagt Reutlinger, "soll ja möglichst nur das machen, was man von ihm erwartet." Das heißt, nur Zellen oder Enzyme angreifen, die krank sind oder krankmachen. Es muss insofern sehr spezifisch sein – und möglichst nur eine gewünschte Reaktion auslösen. Schmerzmittel etwa sollen lindern, aber nicht abhängig machen.

Das gelingt nicht immer ganz. Sildenfil etwa – so der Wirkstoffname von Viagra – sollte ursprünglich gegen koronare Herzerkrankung helfen. Man glaubte, der Phosphodiesterase-Hemmer könne die Gefäße entspannen. Doch das Mittel enttäuschte in dieser ursprünglichen Funktion. Männer wollten es trotzdem einnehmen. Denn es sorgte für Erektionen. Ein Zufallsfund: Doch solch unerwünschten Wirkungen können auch dramatische Folgen haben.

Fehlende Computersimulationen

Erst im Jänner starb ein gesunder Mann in Frankreich, der freiwillig an einem Medikamententest der portugiesischen Pharmafirma Bial teilgenommen hatte. Neben einem zweifelhaften Aufbau der Studie kam auch der Verdacht auf, dass das Molekül im Vorfeld nicht ausreichend getestet worden war. Denn es fehlten öffentlich zugängliche Computersimulationsergebnisse, mittels deren Forscher feststellen, wie genau der Wirkstoff sein Ziel erkennt; wie lange er sich im Körper aufhält; wann und wie er abgebaut wird. Eine Untersuchungskommission stellte fest, dass sich der Wirkstoff im Körper angereichert hatte.

Seit knapp drei Jahrzehnten setzen Wissenschafter und Pharmaforscher Computerprogramme ein, um herauszufinden, wie ein möglicher Wirkstoff optimal in sein Ziel passt. Dabei geht es nicht nur um die Form der Moleküle, es geht um Bindungsstärken. Sie kann von einzelnen Atomen abhängen. Zudem neigen Moleküle dazu, sich zu verselbstständigen. Sie klappen mitunter von einer Form in die andere, ändern ihre Ladung und Konformation – das erfordert enorme Leistungen von Forschern wie Computern.

Denn die Reise eines Medikaments durch den Körper ist lang. Sie beginnt im Mund, führt durch die Speiseröhre in den Magen. Dort, oder spätestens im Dünndarm, wird es in seine Einzelteile zerlegt. Körpereigene Transportsysteme schaffen die Wirkstoffe in die Blutgefäße, wo sie weiter zu den Organen fließen.

Feine Waage

Doch überall lauern Zellen und molekulare Abfangjäger, die eine Substanz aufnehmen oder verändern können, bevor sie ihr Ziel erreicht hat. "Man muss wissen, welche Dosis man einsetzen muss, um eine gewünschte Wirkung zu erzielen und ab wann es gefährlich wird", so Reutlinger.

Besonders kritisch ist die Aufgabe der Leber. Sie ist die Entgiftungsstation im Körper. Nicht nur Alkohol und Drogen, auch Medikamente werden dort ab- und umgebaut. Es kann sein, dass die Vorgänge in der Leber zu gefährlichen Reaktionen oder Wechselwirkungen führen. So sorgen Grapefruitsaft oder Johanniskraut dafür, dass mehr medikamentenabbauende Enzyme vom Körper bereitgestellt werden – mit gravierenden Folgen für Menschen nach Organtransplantationen. Sie sind auf Medikamente angewiesen, die ihr Abwehrsystem bremsen. Wenn zu viel Enzyme im Körper die Mittel abbauen, bleibt die lebensrettende Wirkung aus.

Das europäische Kompetenznetz Virtual Network Liver hat daher mehr als zehn Jahre eine digitale Leber entwickelt, um solche Effekte vorherzusagen. Man kombinierte biologisches Wissen und Erfahrung mit Patienten zu mathematischen Formeln, um ein Modell zu erschaffen, das mit großer Sicherheit die Vorgänge in der Leber simuliert. Mithilfe komplexer Algorithmen habe man neue Biomarker gefunden, sagte der einstige Programmdirektor Adriano Henney.

Die richtige Dosis finden

Mit von der Partie waren auch Forscher des deutschen Pharmakonzerns Bayer. Auch dort haben sich Computerlabore etabliert. "Was wir machen, kommt den jungen Patienten zugute", sagt Jörg Lippert, Leiter der Abteilung Klinische Pharmametrie bei Bayer in Wuppertal.

Lange Zeit waren Kinderärzte mehr auf Erfahrung und Probieren als auf wissenschaftliche Erkenntnis bei der Arzneimitteldosierung angewiesen. Zudem setzen Kinder Medikamente anders um, ihre Leber arbeitet je nach Alter langsamer oder schneller. Am Computer simulieren die Experten bei Bayer heute altersbedingte Unterschiede. "Wir können viel präzisiere Aussagen über Dosierungen machen", sagt Lippert. Computersimulationen würden zwar keine Studien an Tieren oder Menschen ersetzen, "aber Medikamente sicherer machen."

Ziele im Gehirn

In Basel wartet Michael Reutlinger auf die Rückmeldungen eines am Computer designten Phosphodiesterase-10A-Hemmer. Vor einigen Jahren machte man die Entdeckung, dass ähnliche Enzyme, wie die, an denen Viagra ansetzen, auch im Gehirn wirken. Sie könnten den aus den Fugen geratenen Hirnstoffwechsel von Schizophrenie-Patienten wenigstens teilweise ausgleichen. Doch der Unterschied zwischen Potenz- und Psychosemittel ist minimal.

Um die Differenzen zu finden, tauchen die Roche-Experten tief in die dreidimensionale Struktur des Moleküls ein. Sie sitzen mit 3-D-Brillen vor einem Bildschirm, identifizieren Hotspots, so nennen sie interaktionsfreudige Orte in einem Molekül. Am PC bauen sie diese Stellen dann um, schirmen sie ab, um Nebenwirkungen zu vermeiden.

"Je besser ein Wirkstoff in sein Ziel passt, desto zielgenauer ist er", so Reutlinger. Inzwischen testet Roche seinen neuen Schizophrenie-Wirkstoff erstmals am Menschen. Ob er hält, was Computer errechnet haben, muss sich in neuen Tests erst zeigen. (Edda Grabar, CURE, 6.9.2016)