Schau genau: Was das menschliche Gehirn kapazitätsmäßig nicht kann, leisten Supercomputer. Sie ordnen, filtern und bringen Übersicht. Für die Entscheidungen. Unwichtiges bleibt außen vor.

Illustration: Blagovesta Bakardjieva

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Gegen zwei Champions gewinnen – kein Problem für Watson.

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Wer ist Bram Stoker? – Spätestens mit dieser Frage stand im Jahr 2011 fest: Ein Computer hat in der amerikanischen Quizshow Jeopardy erstmals gegen zwei Menschen gewonnen. In der Unterhaltungssendung, in der Antworten wie Fragen formuliert werden müssen, traten die zwei besten Kandidaten aller Zeiten gegen das IBM-Computerprogramm Watson an.

In der Finalrunde wurden Romanschriftsteller des 19. Jahrhunderts gesucht, Watson gewann 77.147 US-Dollar, die beiden Konkurrenten erspielten nur 24.000 und 21.600 US-Dollar. Bram Stoker ist übrigens der Autor von Dracula.

Das hochanalytische System – ein Äquivalent zu 2800 Hochleistungscomputern – wurde eigens für die Quizshow programmiert. In nahezu jeder Fragerunde sahen die Zuschauer das gleiche Bild: Noch bevor die beiden Kandidaten auf den Buzzer schlagen konnten, hatte Watson – eine zimmergroße Maschine benannt nach IBM-Gründer Thomas J. Watson – schon eingeloggt. Selbst mehrdeutige Fragen waren für das System kein Problem.

Gesundrechnen

Möglich machen das kognitive Computer, die Grammatik, Semantik, Kontext und damit Sprache verstehen. Sie erkennen Satzglieder wie Subjekt, Prädikat und Objekt, können zwischen Adverb und Adjektiv unterscheiden, sind lernfähig und lassen sich trainieren.

Doch: Watson weiß immer nur so viel, wie in den Texten und Informationen enthalten ist, mit denen er gefüttert wird. Bei der Jeopardy-Variante waren das Wörterbücher, Datenbanken, Enzyklopädien und die gesamte Wikipedia. Mittlerweile sind kompakte Ableger weltweit in unterschiedlichen Spezialgebieten im Einsatz: für Versicherungen, Finanz- und Immobilienunternehmen, Sozialversicherungen und Spitäler.

Ein Vorreiter in der medizinischen Anwendung ist das Memorial-Sloan-Kettering-Krebszentrum in New York. Die dort tätigen Onkologen trainierten das System darin, die wirksamste Therapie für die Patienten herauszufinden. Dazu speisten sie zunächst etwa zwei Millionen Textseiten aus Fachjournalen, klinischen Studien zum Thema Brust- und Lungenkrebs, Lehrbücher, ICDC-Codes und rund eineinhalb Millionen Diagnosen und Krankenakten ein.

Denken wie ein Arzt

Die Software zur Analyse unstrukturierter Daten wurde monatelang auf Therapieempfehlungen geschult: etwa welche Laboruntersuchungen noch notwendig sind oder ob Operationen bzw. Chemotherapien eine Option sind, und falls ja, welche. Ziel ist es, die Maschine so weit zu bringen, dass sie "denkt" wie ein Arzt.

"Es ist möglich, Watson so zu schulen, dass er Studien wie ein Mensch liest. Durch das Training kann er lernen, wie etwa Onkologen Therapieentscheidungen treffen", sagt Gerald Gartlehner vom Department für evidenzbasierte Medizin an der Donau-Uni Krems. Das System wird so zum digitalen Assistenten, der Ärzte beim Lesen und Zusammenführen von Studienergebnissen entlastet und dabei hilft, die beste Therapie für den einzelnen Patienten zu finden.

"Eines der größten Probleme der Medizin ist, dass Ärzte mit der großen Informationsflut nicht mehr zurechtkommen. Pro Jahr werden drei Millionen medizinische Artikel publiziert. Um up to date zu bleiben, müsste man 160 Stunden pro Woche lesen", sagt Gartlehner.

Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Eigenen Angaben zufolge verbringen 81 Prozent der US-Ärzte monatlich maximal fünf Stunden mit der Lektüre medizinischer Fachjournale, wenig Zeit, um die Relevanz und Qualität von Studiendesigns zu prüfen, die für eine korrekte Interpretation der Ergebnisse notwendig sind. "Auch die Auswahl guter und schlechter Studien kann man Watson beibringen", ist Gartlehner überzeugt.

Kein Arztersatz

Welche Ergebnisse in den Therapievorschlag einfließen, bestimmt letztendlich immer noch ein Arzt. "Watson ist kein in sich selbst gesteuertes System. Der Mediziner kann auf Originaldokumente wie Patientenakten und die verwendete Literatur zugreifen und einzelne Studien ein- oder ausschließen, wenn er die Ergebnisse für irrelevant hält", so Thomas Braunsteiner, Health-Care-Manager von IBM Österreich. Anschließend berechnet Watson neu.

Die Angst, dass das System zukünftig Mediziner ersetzen könnte, gibt es. Das weiß auch Braunsteiner. Diese sei aber unbegründet, betont der IT-Experte. "Wir stellen bloß die Technologie zur Verfügung, doch welche Informationen ins System eingespeist werden, bestimmen Ärzte der jeweiligen Krankenanstalt." Auch Gartlehner ist sich sicher, dass Entscheidungen nicht vom Computer übernommen werden. "Das System kann nur unterstützend wirken, vorausgesetzt der Mensch verlässt sich nicht blind auf die Maschine, wie das beim GPS-Navi der Fall ist."

Ähnlich sieht das auch die Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz: "Jemand, der nie müde wird, jede relevante Studie kennt, absolut alles berücksichtigt und einen Bezug zum individuellen Fall herstellen kann, wird in Zukunft als dritter Partner im Patient-Arzt-Dialog mitwirken. Dieses Wissen werde den Mediziner nicht ersetzen, "es hebt aber das Verhältnis zwischen Arzt und Patient auf eine neue Ebene."

Neue Beziehungsmuster

Voraussetzung für diese "Dreiecksbeziehung" ist laut Pilz, dass nicht nur der Arzt, sondern auch die Bevölkerung "Zugang zu einer leicht verständlichen Version von Watson hat. Der Patient muss informiert mitreden können, letztendlich trifft er die Behandlungsentscheidungen. Ein Zugang für Patienten kann helfen, die Niveauunterschiede im Wissen zwischen Arzt und Patient auszubalancieren."

An einer Watson-Variante für Nichtmediziner wird IBM zufolge bereits gearbeitet: "Die Infos, die ein Arzt hat, sollen auch dem Patienten zur Verfügung stehen – in einer für ihn adäquaten Sprache." Zugang könnten die Nutzer über ein Portal oder das Smartphone erhalten, Watson liefert hier keine Therapieoptionen, sondern Hintergrundinformationen.

Denn: "Häufig informieren sich Betroffene im Internet über Krankheiten und Symptome. Ärzte erzählen mir immer wieder, dass sie die ersten zehn Minuten einer Behandlung dafür verwenden müssen, dem Patienten zu erklären, welche Krankheiten er nicht hat", so Braunsteiner. Mit dem Patienten-Watson könnte der Desinformation durch das Internet begegnet werden, hofft IBM. "Das ist aber noch Zukunftsmusik." (Günther Brandstetter, Bernadette Redl, CURE, 11.12.2016)