Nur Substanzen, die besonders klein und fettlöslich sind, dringen durch die Blut-Hirn-Schranke, etwa Alkohol, Nikotin, Koffein, Ecstasy oder Heroin.

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Was im Kopf alles passiert, lässt sich in weiten Bereichen nur vermuten. Mediziner arbeiten an detaillierten Einsichten – ein Work in Progress.

Illustration: Blagovesta Bakardjieva

Auf die stattliche Länge von 600 Kilometer bringen es die Blutgefäße im Gehirn eines erwachsenen Menschen. Sie durchziehen als komplexes Geflecht die Schaltzentrale und versorgen die 100 Milliarden Nervenzellen mit Nährstoffen. Es sind aber auch 600 Kilometer, auf denen Stoffe aus dem Blutkreislauf ins Hirn vordringen könnten. Doch die Natur hat sich etwas einfallen lassen und eine mächtige Barriere geschaffen: die Blut-Hirn-Schranke.

Von innen sind die Blutgefäße mit sogenannten Endothelzellen wie mit einer Tapete ausgekleidet. Diese Deckzellen werden von besonders engen Zellkontakten zusammengeschweißt und bilden die Schranke zum Gehirn. Ein Durchkommen ist fast nicht möglich. Nur Substanzen, die besonders klein und fettlöslich sind, dringen durch die fetthaltige Membran der Endothelzellen. Alkohol, Nikotin, Koffein, Ecstasy oder Heroin schlüpfen wegen ihrer Affinität zu Fettstoffen so durch die Schranke.

Fluch und Segen

Die Barriere ist ein Segen der Natur. Schließlich verhindert sie wie eine Art Schutzwall, dass fremde Stoffe, Krankheitserreger oder giftige Stoffwechselprodukte eindringen. Doch sie ist zugleich auch ein Fluch – konkret für Patienten mit Hirnerkrankungen, die eine medikamentöse Therapie bräuchten. Etwa 98 Prozent aller Medikamente zur Behandlung etwa von Alzheimer oder Hirntumoren gelangen aufgrund der Barriere nicht ins Gehirn. Forscher suchen daher seit langem nach Methoden, diese Schranke zu überwinden. An Tieren hat man eine Reihe von Techniken mit Erfolg ausprobiert. Nun gibt es die ersten Tests an Menschen.

Kürzlich haben Forscher um den Neurochirurgen Alexandre Carpentier vom Pitié-Salpêtrière Hospital in Paris ein raffiniertes Sesam-öffne-dich auf die Probe gestellt: Ultraschall. Ihre 15 Patienten litten unter einem Glioblastom. Dieser häufigste Hirntumor bei Erwachsenen breitet sich aggressiv aus und bedeutet für die Betroffenen ein mittleres Überleben von nur 15 Monaten nach Diagnose. Fast alle Chemotherapien erreichen einen Hirntumor entweder gar nicht oder nur in nicht nennenswerter Konzentration.

Das wollten Carpentier und seine Kollegen ändern. "Wir haben den Patienten unter lokaler Betäubung ein zwölf Millimeter großes Gerät in den Schädelknochen implantiert", erklärt der Neurochirurg. Es sendet einen Ultraschall schwacher Intensität aus, vergleichbar mit der Intensität eines Ultraschallgeräts aus der Diagnostik.

Wirkort erreichen

Das Gerät brachten sie auf der Höhe des Tumors an, um den Krebs direkt anzuvisieren. Von außen eingesetzt wäre nämlich ein Großteil der Energie des Ultraschalls durch den Schädel absorbiert worden und so verpufft. Über die Vene injizierten die Forscher daraufhin ihren Patienten Mikrobläschen – bestehend aus einem harmlosen Gas umhüllt von einer Fettschicht. Diese Bläschen sind kleiner als rote Blutzellen und fließen ohne Schaden anzurichten ungehindert im Blutstrom mit. "Anschließend aktivierten wir den Ultraschall für zwei Minuten", erklärt Carpentier. Auf die Blutgefäße in der Nähe des Hirntumors gerichtet, sollten die Mikrobläschen im Blutstrom alsbald zu vibrieren beginnen, die engen Zellkontakte der Blut-Hirn-Schranke lockern und letztlich Löcher in die Barriere reißen.

So war zumindest der Plan der Wissenschafter. Er funktionierte. Hirnaufnahmen per Magnetresonanztomografie (MRT) eine halbe Stunde nach Ultraschallbehandlung lieferten den Beweis. "Die Blut-Hirn-Schranke war sechs Stunden lang offen", vermutet Carpentier auf der Grundlage von vorangegangenen Tierstudien. Jeder Patient erhielt kurz nach Aufbrechen der Barriere das Zytostatikum Carboplatin. Das Antitumormedikament soll die unkontrolliert wuchernde Zellbildung von Tumoren unterbinden.

Wie die MRT-Aufnahme zeigten, schlüpfte zumindest ein den Patienten verabreichtes Kontrastmittel bei der Mehrzahl der Probanden durch die Schranke. Daher gehen Carpentier und seine Kollegen davon aus, dass auch das Tumormedikament das Gehirn in größerer Konzentration erreichte.

Durchbruch mit Risiko

Ob das Vorgehen aber tatsächlich auch ein längeres Überleben für die Patienten bedeutet, können die Wissenschafter bislang noch nicht sagen. Bei der noch laufenden klinischen Studie, von der sie im Fachblatt "Science Translational Medicine" Zwischenergebnisse vorlegten, ging es bislang nur um die Sicherheit und Verträglichkeit des Verfahrens.

Die Ultraschallmethode ist offenbar ungefährlich, denn die Forscher konnten keine Schäden wie Durchblutungsstörungen oder Blutungen im Gehirn ausmachen. "Wir haben das Verfahren bislang nur bei Patienten mit Glioblastomen angewendet", sagt Carpentier, der sich aber auch eine Behandlung von Alzheimer-Patienten vorstellen kann.

Gert Fricker, der selbst an der Überwindung der mächtigen Barriere arbeitet, findet das Verfahren zwar interessant. Er ist allerdings nicht ganz überzeugt. "Das Problem ist, dass solche Ultraschallverfahren die Blut-Hirn-Schranke relativ unspezifisch öffnen", sagt der Biochemiker von der Uni Heidelberg.

Alle möglichen Stoffe könnten dadurch aus dem Blut ins Gehirn eindringen, darunter auch solche mit nervenschädigender Wirkung. "Und da ist natürlich die entscheidende Frage, wie lange die Blut-Hirn-Schranke geöffnet bleibt." Schließlich bestünde dann ein gewisses Risiko von Folgeschäden für Patienten.

Fricker ist besonders skeptisch, wenn es um chronische Erkrankungen des Gehirns geht. "Gerade bei Alzheimer ist es ja so, dass man immer mehr versucht, die Krankheit schon bei sehr frühen Diagnosen und Hinweisen quasi prophylaktisch zu behandeln." Auf diesem Weg möchte man die Degenerationserscheinungen zumindest möglichst lange hinauszuzögern. "Ich kann mir schwer vorstellen, dass Patienten dann über zehn, 20 Jahre oder noch länger mit dem Ultraschallverfahren behandelt werden können."

Trickreiches Verteidigungssystem

Ein ähnliches Problem haben auch andere Methoden, die quasi Löcher in die Barriere reißen und derzeit in klinischen Studien auf die Probe gestellt werden: Die Blut-Hirn-Schranke geht ganz generell auf, und damit ist die Sicherheit des Patienten gefährdet. Das macht Sinn bei Glioblastompatienten, die sonst keine andere therapeutische Option mehr haben. Aber es eignet sich wohl nicht für die Behandlung chronischer Krankheiten.

Es müsste also noch einen anderen Weg durch die Barriere geben. Und den gibt es auch. Dazu muss man wissen: Die Endothelzellen der mächtigen Barriere mauern nicht nur die Blutgefäße im Gehirn regelrecht zu, sie verfügen zusätzlich noch über ein trickreiches Verteidigungssystem. In der Membran der Endothelzellen sitzt das sogenannte p-Glykoprotein. Dabei handelt es sich um eine Pumpe, die für die Nervenzellen potenziell schädliche Substanzen abfängt und sie unmittelbar in den Blutkreislauf zurückschleust – darunter leider auch Medikamente.

Was liegt näher, als diese Pumpe lahmzulegen. Genau das taten 2015 Forscher um den klinischen Pharmakologen Oliver Langer von der Medizinischen Universität Wien. Sie injizierten fünf gesunden Probanden den Wirkstoff Tariquidar als Pumpenblocker kontinuierlich über die Vene. Anschließend verfolgten sie mittels eines bildgebenden Verfahrens die Spur einer schwach radioaktiv markierten Testsubstanz. Tatsächlich konnte die Substanz, die normalerweise wieder herausgepumpt worden wäre, dadurch stärker in das Gehirn der Freiwilligen vordringen.

Mit Pumpen arbeiten

Bei welchen Patienten könnte man nun ein solches Verfahren anwenden? "Generell eher bei lebensbedrohlichen Zuständen", sagt Oliver Langer. "In Fällen, wo man über einen beschränkten Zeitraum unter kontrollierten Bedingungen die Konzentration von Medikamenten im Gehirn erhöhen möchte." Langer denkt dabei an Gehirntumore. Der klinische Pharmakologe kann sich aber auch eine Anwendung bei bestimmten Fällen von Epilepsie vorstellen, die sich gegenüber einer herkömmlichen Therapie als resistent erweisen.

Einer Vermutung zufolge wird die Pumpe an der Blut-Hirn-Schranke nach epileptischen Anfällen sogar noch hinaufreguliert. Die Folge: Klinisch angewandte Medikamente haben es noch schwerer, ihren Wirkort zu erreichen. "Die Gabe eines Hemmstoffes könnte helfen, die Anfälle unter Kontrolle zu bringen", sagt Langer, "und so verhindern, dass die Pumpe weiterhin durch unkontrollierte Anfälle hinaufreguliert wird." Auch ein Einsatz bei Schlaganfällen sei denkbar: um die Verteilung von Medikamenten zu verbessern, die das Hirngewebe schützen sollen.

Allerdings kommt die Pumpe keineswegs nur in der Blut-Hirn-Schranke vor. "Das sollte man nicht vergessen", warnt Fricker. Der Blocker hemme die Pumpe auch in der Niere, der Leber und im Dünndarm – also überall dort, wo Gewebe eine ausscheidende oder schützende Funktion hat.

Daher sagt auch Oliver Langer: Man müsse sich für jede Kombination eines bestimmten Hemmstoffs mit einem bestimmten Medikament genau ansehen, wie sich die Verteilung des Wirkstoffs in anderes Gewebe als das Gehirn ändert. Nur eine sorgfältig erprobte und maßgeschneiderte Kombination aus Pumpenblocker und Medikament wird man Patienten verabreichen können. Bis dahin wird noch Zeit vergehen. Es wird noch dauern, bis das Durchbrechen der Blut-Hirn-Schranke auch ein Durchbruch für Patienten sein wird. (Christian Wolf, CURE, 29.11.2016)