Der deutsche Soziologe Oliver Nachtwey analysiert den gesellschaftlichen Rolltreppeneffekt.

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Alle umsteigen! Der kollektive Fahrstuhl nach oben ist steckengeblieben. Weiter geht's auf der Rolltreppe – aber nicht mehr für alle nach oben, sagt Oliver Nachtwey.

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STANDARD: Der im Jahr 2015 verstorbene Soziologe Ulrich Beck fasste 1986 seine Gesellschaftsanalyse unter dem Begriff "Risikogesellschaft" zusammen. Dreißig Jahre später kommen Sie zu einem neuen soziologischen Befund. Was ist los? In welcher Gesellschaft leben wir denn heute?

Oliver Nachtwey: Aus den europäischen Gesellschaften des sozialen Aufstiegs und der sozialen Integration sind Gesellschaften des Abstiegs, der Prekarität und der Polarisierung geworden. Wir leben heute in einer Abstiegsgesellschaft. Beck verwendete damals den Begriff des kollektiven Fahrstuhleffekts nach oben. Er beschrieb damit eine Gesellschaft, in der Reiche und Arme gemeinsam im Fahrstuhl nach oben gefahren sind. Es gab weiter ähnlich große Ungleichheiten zwischen Reichen und Armen, aber sie spielten eine geringere Rolle, weil die Armen ebenfalls einen sozialen Aufstieg erfahren haben. Das war auch die Grundlage für die soziale Pazifizierung, die soziale Integration der Gesellschaft.

STANDARD: Wo lassen sich Abstiegssymptome konkret festmachen?

Nachtwey: Schon in den 70er-Jahren und dann in den 80ern hat sich der Fahrstuhl deutlich verlangsamt. Wir hatten zwar mehr Wirtschaftswachstum, steigende Produktivität und steigenden Wohlstand, aber die Arbeitnehmer haben daran relativ weniger partizipiert als in den 50/60ern. Etwa ab 1992 sehen wir gerade in Deutschland einen wirklichen sozialen Abstieg in mehreren Dimensionen: am stärksten bei den durchschnittlichen Einkommen, die bis Anfang der 90er kontinuierlich gestiegen sind. Von etwa 1991 bis 2011 sind die deutschen Durchschnittseinkommen erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg gesunken, für die unteren Lohngruppen massiv. Seit der Jahrtausendwende hat sich für fast ein Viertel der Erwerbstätigen ein regelrechter Niedriglohnsektor gebildet, wo man an der Schwelle des würdevollen Lebens entlangschrammt. Die Aufstiegsgesellschaft, die mit sozialer Sicherheit verbunden war, gibt es nicht mehr.

STANDARD: Man muss aber auch sagen: Nicht alle steigen ab.

Nachtwey: Ja, es gibt immer noch sichere Jobs, das sind etwa zwei Drittel des Arbeitsmarkts, aber ein Drittel sind sogenannte prekäre Beschäftigungsverhältnisse, befristet oder geringfügig, oder Leiharbeit. Diese Prekarität hat einen Schwerpunkt in den niedrigqualifizierten Berufen, aber auch in vielen hochqualifzierten Berufsgruppen, etwa bei Architekten oder Kulturberufen. In Baden-Württemberg gibt es viele Lehrer, die nur noch angestellt sind und in den Sommerferien wieder entlassen werden. In vielen Medienhäusern wurden die Stammbelegschaften ausgedünnt. Immer mehr Anwälte, die nicht in großen Kanzleien arbeiten, führen im Grunde ein prekäres Dasein als Einzelunternehmer. Das ist der große Wandel: Beruflicher Aufstieg ist nicht gleich sozialer Aufstieg mit sozialer Sicherheit.

STANDARD: Becks "Fahrstuhl" steckt also fest. Wenn das passiert, drückt man den Alarmknopf – Sie haben das getan und einen analytischen Seitenausstieg gewählt. Welchen?

Nachtwey: Die Rolltreppe – als analytische Metapher kann sie auch die sozialen Unterschiede besser abbilden, auf der Rolltreppe kann man auch jemanden überholen, und das war ja tatsächlich möglich. Der Fahrstuhleffekt markierte eine Epoche, wo die Rolltreppe für alle nach oben gefahren ist. Jetzt hat die Rolltreppe in den unteren Etagen ihre Richtung geändert. Man kann sich das wie in einem Kaufhaus vorstellen. Die Oberklassen haben schon die nächste Etage, das dritte Stockwerk, erreicht, und da fallen sie auch nicht mehr runter. Teilweise fahren sie sogar noch weiter in den vierten oder fünften Stock. Das sind die ein Prozent, die vom Matthäus-Effekt profitieren: Wer hat, dem wird gegeben. Aber für die Leute in den mittleren und unteren Stockwerken fährt die Rolltreppe jetzt nach unten. Man kennt das aus der Kindheit. Man kann heute, ja muss geradezu gegen die Rolltreppe anlaufen, sodass man keinen sozialen Abstieg erfährt. Dafür muss sich jedoch die Lebensführung ändern. Ich muss in Bewegung bleiben, ich bin in permanentem Wettbewerb. Wenn ich stehen bleibe, fahre ich nach unten. Das macht auch etwas mit den Menschen.

STANDARD: Was? Welche Folgen hat dieser Kampf gegen den Abstieg?

Nachtwey: Der Rolltreppeneffekt führt zu Frustration, sozialen Konflikten, aber auch starken Ressentiments. Für viele Leute ist der Sozialstaat ein schrumpfender Kuchen, von dem man immer weniger haben kann – und dann kommen auf einmal Fremde oder Migranten, die für sie wie unproduktive Mitesser wirken. Deshalb sieht man Bewegungen wie Pegida, obwohl man selbst sehr wenig mit Migranten zu tun hat. Gegen die Rolltreppe laufen die Menschen immer nur individualisiert an, dadurch wird das soziale Band ausgedünnt, Solidarität und Gemeinschaftlichkeit nehmen ab. In dieser Wettbewerbsgesellschaft versucht man dann, den schrumpfenden Kuchen für die Nation, für die "Volksgemeinschaft" zu reservieren. Die sozialen Verwundungserfahrungen, die viele Menschen heute erleben – sie sind prekär beschäftigt, arbeitslos etc. -, machen sie anfällig für Ressentiments und lassen viele zu dieser leicht autoritären Volksgemeinschaft hintendieren.

STANDARD: Was wären politische Antworten auf diese unbehagliche Abstiegsgesellschaft? Sie meinen, als Mittel gegen die Rechtspopulisten, die für viele attraktiv sind, die ihre Deklassierung fürchten, könnte "linker Populismus helfen", ja "ein Glücksfall für die Demokratie" sein. Ist linker Populismus besser oder weniger böse als rechter?

Nachtwey: Es kommt darauf an, wie dieser Populismus konkret aussieht. Wir haben es ja nicht nur mit der Abstiegsdrohung zu tun, sondern für viele Leute hat sich die politische Repräsentation so stark verändert, dass sie sich politisch völlig heimatlos fühlen. Wenn man in den 20er-Jahren, aber auch noch in den 60ern Anhänger der Sozialdemokratie war, war das tatsächlich ein politisches Heimatgefühl, wo man der Überzeugung war, Teil einer großen politischen Strömung zu sein, da ging es um große gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Da wurde wirklich gestritten um große Umverteilungsprogramme, um den Sozialstaat. Dieses Gefühl ist bei vielen Leuten nicht mehr vorhanden.

Gerade in Frankreich im Fall des Front National sieht man das, da ist die Tragödie vielleicht am größten, aber auch in Deutschland oder Österreich gibt es Phänomene wie AfD oder FPÖ. Die traditionelle Klientel der linken Parteien – Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose – wandert zu den Rechtspopulisten, weil sie sich von "ihren" Parteien im Stich gelassen fühlen. In Deutschland hat die Sozialdemokratie den Arbeitsmarkt liberalisiert, in Frankreich versucht sie es gerade wieder, und rechtspopulistische Parteien können sich als postindustrielle Arbeiterparteien und Schutzmacht der kleinen Leute profilieren.

STANDARD: Was kann "linker Populismus" dagegen ausrichten?

Nachtwey: Die linken Parteien sind heutzutage im Wesentlichen marktwirtschaftliche und liberal-kosmopolitische Parteien. Man ist für Europa, für Freihandelsabkommen, für liberalisierte Arbeitsmärkte, und man unterscheidet sich eben kaum noch von den konservativen Parteien. Ein linker Populismus wäre einer, der wieder den demokratischen Streit sucht, der fragt, wie wollen wir leben, ist unsere jetzige Marktwirtschaft die richtige Wirtschaftsordnung, oder brauchen wir nicht eine ernsthafte Alternative?

Bernie Sanders hat das in den USA gerade mit viel Zustimmung vorgemacht – mit seinem "demokratischen Sozialismus", was nichts anderes ist als ein starker demokratischer Sozialstaat. Das ist ein Grundmoment der Aufklärung, dass wir in Alternativen denken und nicht nur in der minimalen Differenz des eigentlich Gleichen. Ein linker, demokratischer Populismus würde den wirtschaftsliberalen Konsens und die dazugehörigen Eliten infrage stellen, er würde sagen, es kann kein Europa ohne echte soziale Integration geben, und würde gesellschaftliche Gerechtigkeitskonflikte viel stärker hervorheben. Aber ein linker Populismus, das ist die Voraussetzung, kann zu keinem Zeitpunkt ein vermeintlich gutes Volk konstruieren, womit immer auch die Exklusion der Fremden gemeint ist, sondern er kann nur links sein, wenn er inklusiv ist, alle Ausgeschlossenen mitnimmt und sagt: Wir sind der Demos, wir sind die Bevölkerung, nicht das Volk, und wir wollen eine echte Demokratie. (Lisa Nimmervoll, 20.8.2016)