Minerva, die römische Göttin der Erkenntnis, spendet Licht für den Moment der Aufklärung. Wenn es um die Patienten geht, stößt die Neuorientierung bei Medizinern auf wenig Resonanz, hieß es in Alpbach.

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Alpbach – Die Gesundheitsgespräche sind für viele Teilnehmende eine liebe Tradition. Mitte August pilgert man in das kleine Bergdorf nach Tirol. Letztes Jahr war das Kongresszentrum Baustelle, doch heuer steht die neue, prachtvolle Veranstaltungshalle. Nichts stört die Idylle. Wäre da nicht die "Neue Aufklärung", das Generalthema des 71. Europäischen Forums. Für die Gesundheitsgespräche war das schwere Kost.

"Aufklärung stößt unter Medizinern auf wenig Resonanz, wenn es um die Patienten geht," sagte Alpbach-Vizepräsidentin Ursula Schmidt-Erfurth in ihrem Eröffnungsstatement und spannte den Bogen zu alten Mythen. Hatte Descartes einst seinen Satz "Ich denke, also bin ich" gegen den Aberglauben der Menschen und für die Kritik an herrschenden Strukturen formuliert, so wurde bei den Gesundheitsgesprächen Aberglaube als alter Mythos interpretiert. Kritik galt all jenen, die mit Gesundheit Geschäfte machen.

Sinnlose Anwendungen

Drastisch formulierte es der finnische Arzt Teppo Järvinen: "Jede Krankheit ist auch eine Geschäftsidee." Mit mit den Leitlinien für Bluthochdruck oder Osteoporose ging er ins Gericht. 50 Prozent aller medizinischen Anwendungen seien vollkommen sinnlos, "ein Witz", wetterte er und erntete Lacher. Die vielen Vertreter der Pharmawirtschaft und einige Ärzte rutschten ziemlich unruhig auf ihren Sitzplätzen herum.

"Ärzte können statistische Daten nicht lesen und sie insofern auch Patienten nicht näherbringen", sagte Gesundheitswissenschafterin Ingrid Mühlhauser von der Universität Hamburg. Das mache "aufgeklärte, weil informierte Entscheidungen" vollkommen unmöglich. Evidenzbasierte Medizin, also Behandlungsempfehlungen nach statistisch gesicherter Wirksamkeit, wäre eine Lösung des Dilemmas, doch Gerald Gartlehner von der Donau-Universität Krems hat zwar viele Anfragen von Patienten, aber zu wenig Ressourcen, sie beantworten zu können. "Der Patient steht in Österreich ganz sicher nicht im Mittelpunkt", so seine Überzeugung. Überbehandlung und Übertherapie würden ignoriert, wenn es darum geht, dass die Stakeholder des Gesundheitssystems Kompromisse schließen, sagte Gartlehner. Echte Strukturkritik am Gesundheitssystem ging sich heuer wieder nicht aus, sie liefe auch dem österreichischen Harmoniebedürfnis zuwider.

Mehr Schaden als Nutzen

Zudem würde sie auch die Idylle zerstören. Die Innsbrucker Anästhesistin Barbara Friesenecker wagte es trotzdem: "Patienten erwarten von uns Ärzten, dass sie überleben, aber manchmal richten wir mit einer Behandlung mehr Schaden an, deshalb müssen wir uns die Sterblichkeit wieder zutrauen und den Tod thematisieren, wenn er nicht mehr vermeidbar ist." Die Zeit für diese Gespräche fehle im Spital.

Da glaubt das Publikum in Alpbach schon lieber an die Technik und den Fortschritt. Tags zuvor durfte Leroy Hood seine Geschäftsidee der Scientific Wellness präsentieren: 5000 Dollar zahlen, Genom sequenzieren, Risikofaktoren orten und durch Lifestyle gegen Erkrankung arbeiten. Das machte mehr Hoffnung. Das Schönste daran sei der "leichte Tod" durch Multiorganversagen um das 100. Lebensjahr. Fazit: Die Angst vor dem eigenen Lebensende ist stärker als jede Vernunft. Egal, ob aufgeklärt im alten oder neuen Sinne. (Karin Pollack, 23.8.2016)