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Mehr Grenzschutz – unter Einsatz von Zäunen, Polizei und Militär – beendet Migration nicht. Die Schließung der ungarisch-serbischen Grenze im Oktober 2015 ist dafür ein gutes Beispiel.

Foto: AP/Matthias Schrader

Intensiver Grenzschutz und Entwicklungspolitik sind seit Jahrzehnten Säulen der europäischen Migrationspolitik. Ihre Folgen werden jedoch häufig falsch eingeschätzt – auch weil Migration meist losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen betrachtet wird. Jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse können hier Orientierung bieten.

Migration und Entwicklung

Ein Credo der Migrationspolitik lautet: Entwicklungspolitik reduziert Auswanderung. Doch das stimmt nur zum Teil. Ronald Skeldon (Universität Sussex) hat in seinen Studien zu Asien und Lateinamerika seit den 1990ern festgestellt, dass Auswanderung infolge von Entwicklung zunächst wächst. Denn steigende Einkommen, höhere Bildung, sowie bessere Transport- und Kommunikationsmittel fördern sowohl Migrationsbestrebungen als auch deren Realisierung.

Erste Erkenntnisse aus dem Projekt "Migration as Development" (MADE) an der Universität Amsterdam zeigen somit, dass die Globalisierung der letzten Jahrzehnte die Migration aus Äthiopien Richtung Golfstaaten und aus Marokko nach Europa stark angekurbelt hat. Das erklärt auch, warum weltweit die Länder mit der höchsten Auswanderung weder die ärmsten noch die reichsten sind, sondern jene mit mittlerem Entwicklungsstand – wie zum Beispiel Mexiko oder die Philippinen.

Komplexes Zusammenspiel

Erst ab einem relativ hohen Niveau führt weitere Entwicklung zu weniger Auswanderung. Italien und Spanien seit den 1980ern sind beeindruckende Beispiele für den Wandel vom klassischen Auswanderungs- zum attraktiven Einwanderungsland.

Der Ökonom Michael Clemens hat diesen Wendepunkt in einer Studie aus 2014 bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 7000 bis 8000 US-Dollar pro Jahr festgemacht. In den meisten Ländern Afrikas und Asiens, abgesehen von jenen mit Rohstoffvorkommen, liegt das Pro-Kopf-Einkommen darunter. Daraus folgt, dass Entwicklungspolitik nur eine sehr langfristig angelegte Strategie sein kann, um Auswanderung entgegenzuwirken.

Grenzschutzintensivierung – eine gefährliche Spirale

Doch Migrationspolitik nimmt darauf oft keine Rücksicht. Die Folge ist irreguläre Migration. Eine weit verbreitete und kurzfristig erfolgreiche Antwort darauf ist mehr Grenzschutz – unter Einsatz von Zäunen, Polizei und Militär. Die Schließung der ungarisch-serbischen Grenze im Oktober 2015 ist dafür ein gutes Beispiel. Doch werden Migrantinnen und Migranten und vor allem Kriegsflüchtlinge aus Syrien oder dem Irak dadurch nicht abgehalten – sie wählen heute gefährlichere, längere, teurere und somit tödlichere Wege nach Europa. So sind laut der Internationalen Organisation für Migration zwischen Jänner und Juni 2016 2905 Menschen im Mittelmeer gestorben, fast doppelt so viele wie im ersten Halbjahr 2015 und viermal so viele wie 2014 im gleichen Zeitraum.

Verstärkter Grenzschutz führt auch zur Professionalisierung des Schlepperwesens, was wiederum meist mit mehr Grenzschutz beantwortet wird – eine moralisch und finanziell widersinnige Spirale. Mehr noch: Douglas Massey (Princeton Universität) hat in seiner neuesten Publikation dargelegt, dass intensiverer Grenzschutz paradoxerweise zu einer Zunahme der irregulären Migration führt. Denn die Daten des "Mexican Migration Project" belegen, dass die Militarisierung der amerikanischen Grenze während der letzten drei Jahrzehnte dazu geführt hat, dass sich Mexikanerinnen und Mexikaner – statt wie bisher saisonal zwischen den USA und Mexiko zu pendeln – dauerhaft irregulär in den USA niedergelassen haben.

Wann wirkt Migrationspolitik?

Migrationspolitik alleine hat nur wenig Hebelwirkung und oft unerwartete Konsequenzen – vor allem wenn sie den Zielen anderer Politikbereiche oder strukturellen Entwicklungen in Herkunfts- und Zielländern widerspricht. So sind die steigenden Waffenexporte europäischer Staaten in den vergangenen Jahren nur schwer mit der angestrebten Reduzierung von Fluchtursachen und Asylbewerberzahlen vereinbar. Und einzelne Migrationsgesetze können nur bedingt dem demografischen Wandel und seinen Folgen für Ein- und Auswanderung entgegenwirken – seien es die immer noch hohen Geburtenraten in Subsahara-Afrika oder die Tatsache, dass in Europa aber auch zunehmend in Nordafrika geburtenschwache Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt kommen.

Das bedeutet nicht, dass Staaten keinen Handlungsspielraum haben, um Migration zu steuern. Wie das Projekt "Determinants of International Migration" (DEMIG) an der Universität Oxford gezeigt hat, kann Migrationspolitik sehr wohl Effekte erzielen, sofern Migration als struktureller Teil unserer Realität und des vielschichtigen Wandels unserer Gesellschaften gesehen und Migrationspolitik mit anderen Politikfeldern abgestimmt wird.

Vom Auswanderer- zum Einwanderer-Kontinent

Während Europa bis in die 1960er Jahre vor allem ein Kontinent der Auswanderer war, ist es heute eine Hauptdestination für Migrantinnen und Migranten aus aller Welt. Laut aktuellsten verfügbaren Daten von Eurostat sind 2014 93 Prozent aller Einwandererinnen und Einwanderer auf regulärem Weg in die EU gekommen. Auch die Zunahme der irregulären Migration 2015 verändert diese Tatsache nicht fundamental. Sie zeigt hingegen, dass die europäische Migrationspolitik nicht so grundlegend gescheitert ist, wie sie in der politischen Debatte oft rezipiert wird. (Katharina Natter, 25.8.2016)