Flüchtlinge mit Blick auf die italienische Insel Pantelleria an Bord des Rettungsschiffes Aquarius im Mai 2016.

Foto: AFP/GABRIEL BOUYS

Im Helliniko-Camp in Griechenland werden im Juni Flüchtlinge registiert, um den Asylprozess zu beschleunigen.

Foto: AFP/LOUISA GOULIAMAKI

Migration ist die größte existentielle Bedrohung der Europäischen Union. Sie ist keine externe Bedrohung, sondern eine interne: kein Angriff von außen durch Migranten, sondern ein Angriff von innen durch Politiker, die Fakten zur Migration manipulieren. Die weit verbreitete Ablehnung von Einwanderung etwa gab den entscheidenden Ausschlag für den Brexit, da der vehement einwanderungsfeindlichen Euroskepsis der Austrittsbefürworter von den Befürwortern des Verbleibs in der Union keine entsprechende migrationsfreundliche Position entgegengesetzt wurde.

Europa hat einen Widerspruch aufzulösen. Einerseits betrachtet es eine Million irreguläre Migranten als unerwünscht, andererseits wären jedes Jahr zwei Mal so viele Menschen nötig, um die rund 40 Millionen erwerbsfähigen Europäer zu kompensieren, die in den nächsten 20 Jahren aus dem Arbeitsmarkt hinausaltern werden. Was ist also bei der Migration schief gelaufen?

Neue Routen

Seit 2014 hat die unerlaubte Einreise auf dem Seeweg, die seit 40 Jahren erfolgt, im Ausmaß enorm zugenommen und erfolgt nun in neuen Formen und auf neuen Routen. Die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa geschmuggelt wurden, stieg von durchschnittlich etwa 40.000 pro Jahr im Zeitraum zwischen 1998 und 2013 auf 210.000 im Jahr 2014 und 1.020.000 im Jahr 2015 an. Der Anteil der Flüchtlinge wuchs von circa 30 Prozent vor 2011 auf 80 Prozent im Jahr 2015 und die kurze Überfahrt von der Türkei auf die griechischen Inseln ersetzte die lange und gefährlichere Reise von Tunesien und Libyen nach Italien.

Sich selbst versorgen

Obwohl sie aus von Krieg zerrütteten Ländern (Syrien, Irak, Afghanistan, Somalia, et cetera) stammen, suchte der Großteil der Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Griechenland oder Italien nicht um Asyl an, sondern versuchte, weiter nach Deutschland oder Schweden zu gelangen. Das trug ihnen den Vorwurf ein, dass sie nicht auf der Suche nach Asyl sondern nach Sozialhilfe seien und Europas Großzügigkeit ausnutzen wollten.

Vor Ort gesammelte Daten haben aber ergeben, dass die meisten von ihnen Europa erst nach langem Aufenthalt in Erstasylländern wie Türkei, Libanon oder Jordanien erreichten, in denen der mangelnde Zugang zu einer Existenzgrundlage ihre Ersparnisse erschöpft hatte und ihnen praktisch keine andere Wahl ließ, als in Länder zu ziehen, in denen sie nicht mehr von internationalen Hilfsgeldern abhängig sein würden, sondern sich selbst versorgen könnten.

Alte, neue Spannungen

Ein Nachlassen der Zwangsmigration bis vor die Tore Europas zeichnet sich nicht ab, da der Konflikt in Syrien seit sechs Jahren andauert und im Irak Frieden und Sicherheit noch nicht wiederhergestellt werden konnten. Der Nahe Osten ist Ursprung und Aufnahmeregion von 50 Prozent der weltweit 20 Millionen Flüchtlinge, aber die meisten Staaten der Region haben die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterzeichnet. Flüchtlinge werden zwar wohlwollend empfangen, aber eher als Gäste, sodass sie keine Rechte geltend machen können, auch kein Aufenthaltsrecht.

Türkei, Libanon und Jordanien, die 4,8 Millionen Flüchtlinge aus Syrien beherbergen, sehen sich mit einer schweren Belastung ihrer Wirtschaft und unvorhersehbaren Auswirkungen auf ihre politische Stabilität konfrontiert. Der Zustrom von Kurden aus Syrien in die Türkei und den Irak hat den kurdischen Irredentismus in beiden Staaten gestärkt. Im Libanon verändert der Zustrom von hauptsächlich sunnitischen Syrern die Zusammensetzung der Bevölkerung, auf der ein fragiles politisches Gleichgewicht basiert. In Jordanien, wo die Hälfte der Bürger selbst palästinensische Flüchtlinge sind, hat der massive Strom von Vertriebenen aus dem Irak und Syrien alte Spannungen wieder geschürt.

Politische Instabilität

Indem es die Eindämmung der Flüchtlingsströme aus dem Nahen Osten auf die Türkei (und bald Libyen?) abwälzt, riskiert Europa weitere politische Instabilität an seinen Außengrenzen. Düstere Entwicklungen bahnen sich an, vom autoritären Kurs in der Türkei bis hin zu einem gescheiterten Staat in Libyen. Im Interesse seiner eigenen Sicherheit muss Europa zu einer Politik des internationalen Schutzes zurückkehren und zugleich der ungeregelten und gefährlichen Überquerung des Mittelmeeres einen Riegel vorschieben.

Zugang zu Asyl direkt aus der Türkei, dem Libanon und Jordanien zu ermöglichen wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Die Gewährung eines zeitlich begrenzten humanitären Status würde es Flüchtlingen erlauben, Europa auf reguläre Weise zu erreichen und hier ihren Asylantrag zu stellen. Das würde Leben retten und Geld sparen. Es würde gleichzeitig zwei Nebenwirkungen des jetzigen Systems die Grundlage entziehen, nämlich dem Geschäft der Menschenschmuggler und der Infiltration der Flüchtlingsströme durch Terroristen.

Europas Demographie

Gleichzeitig beginnt in Europa eine Phase des anhaltenden Bevölkerungsschwunds und der Überalterung. Diese demographischen Entwicklungen gefährden Europas globale Bedeutung, Wohlstand und soziale Sicherheit, und nur Einwanderung kann sie eindämmen. Ohne Migration werden die 27 Mitgliedsstaaten der EU im Jahr 2050 zusammen weniger Einwohner als Nigeria haben. Deutschland, der größte Mitgliedsstaat, würde sich bevölkerungsmäßig auf dem weltweit 25. Platz wiederfinden.

Mit welcher Legitimität könnten derart geschrumpfte europäische Nationen Einfluss auf das Weltgeschehen und die Führung von globalen ordnungspolitischen Institutionen für sich beanspruchen? Zudem wird die Erwerbsbevölkerung der EU in den nächsten 20 Jahren bei ausbleibender Einwanderung um 40 Millionen Arbeitskräfte schrumpfen, darunter 32 Millionen junge Arbeitskräfte (zwischen 20 und 45 Jahren), deren zeitgemäße Qualifikationen grundlegend sind, um das Ziel der EU, sich als stärkste wissensbasierte, postindustrielle Wirtschaft der Welt zu etablieren, zu verwirklichen.

Zweckmäßige Sichtweise

Der Bedarf an Ersatzmigration wird zurzeit von der hohen Arbeitslosigkeit in Europa überschattet. Aber die Wirtschaftskrise wird vorübergehen, die demographische Zwickmühle jedoch nicht. Die Million Flüchtlinge, die 2015 in Europa angekommen sind, entspricht nur der Hälfte der zwei Millionen Migranten, die jedes Jahr notwendig sein werden, um das Arbeitskräftepotential konstant zu halten. Wenn es nur nach den Arbeitsmärkten ginge, hätte man nicht alle von ihnen hereingelassen, aber die Übrigen würden einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaft in ihrem Aufnahmeland leisten, vorausgesetzt es würde ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt bei ihrer Ankunft gewährt und nicht erst nach dem langen Verfahren zur Anerkennung des Flüchtlingsstatus.

EU-Staaten, die Flüchtlinge aufnehmen, müssen nun rasch von einer humanitären auf eine zweckmäßige Sichtweise schalten. Dieser Schritt brächte nicht nur für ihre Wirtschaft, sondern auch für ihre Sicherheit Vorteile, da eine erfolgreiche Integration wohl das beste Mittel gegen gefährliche Radikalisierung ist. (Philippe Fargues, 26.8.2016)