Christian Redl hat ja keine Ahnung. An Land, meine ich: Ob sich das denn auszahle, hatte der Apnoetaucher am Abend gefragt, als wir todmüde jeder unserer Wege gegangen waren: Wir waren tags zuvor beide vor vier Uhr morgens aufgekrabbelt, um hierher zu reisen. Hier, das ist der Südzipfel Sardiniens. Und hatten dann – gegen Mittag – sofort zu arbeiten begonnen. Andere Baustelle.

Die gehört hier – schon aus Compliancegründen – nicht her. Gegen Mitternacht, nach dem Abendessen, hatte ich dann gesagt, dass ich auch am nächsten Morgen früh raus müsse. Um zu laufen. Und Redal hatte ein bisserl verständnislos den Kopf geschüttelt. Der Mann ist einer der besten Luftanhaltetaucher der Welt. Hat zahllose Abenteuer und Rekorde auf seiner Liste. Aber trotzdem wiederhole ich: Christian Redl hat keine Ahnung.

Foto: thomas rottenberg

Ich bin ja auch kein Frühaufsteher. Wirklich nicht. Aber das Aufstehen ist nur so lange grauenhaft, bis ich sehe und spüre, wieso ich das Bett – und daheim den Menschen, den ich liebe – da jetzt einfach ausblende: Ganz abgesehen davon, dass der Tag sich danach komplett anders anfühlt (und ich auch nicht müder oder kaputter bin als die, die weiterschlafen), wurde ich noch nie enttäuscht: am Berg. Im Wald. Im Schnee. Oder – wie hier – am Meer. Die Momente, Stimmungen und Geräusche, bevor die Sonne die Gestaltung des Tages übernimmt, sind einzigartig. Jedes Mal wieder. Unvergleichlich. Und unbeschreiblich. Für mich jedenfalls.

Foto: thomas rottenberg

Und ganz abgesehen davon: Den Satz "Die Sonne ist mein Feind" habe ich zwar von Douglas Coupland geklaut und der hat ihn in "Generation X" in einem ganz anderen Kontext verwendet, aber wahr ist er trotzdem. Nicht nur weil ich zu jener Sorte Menschen gehöre, deren Haut sich schon bei der bloßen Erwähnung der "gelben Sau" rosa einzufärben beginnt und mein bevorzugter Lichtschutzfaktor "Neopren und Keller" heißt: Natürlich kann ich in der prallen Sonne laufen. Aber: Schlau finde ich es nicht.

Foto: thomas rottenberg

Sardinien im August hat aber vor allem eines: Sonne. Und das nicht zu knapp. Deshalb kommen die Leute ja hierher. Und deshalb … aber das gehört nicht hierher. Weil ich aber nicht der einzige bin, der seine seltsamen Angewohnheiten aus Mittel- und Nordeuropa in den Süden mitbringt und die Urlaubsindustrie davon lebt, den Gästen in der Fremde zu bieten, was sie daheim gewohnt sind, haben schlaue Hoteliers längst auch mich im Fokus: Eine Hotelrezeption, an der ich keine Laufroutenempfehlungen oder Karten in die Hand gedrückt bekomme, habe ich schon lange nicht erlebt. Unabhängig vom Namen.

Foto: thomas rottenberg

Das mit dem Karten- und Routenservice begrüße ich. Dass ich mich – trotz und mit Karten – dann sehr gerne, mitunter ja sogar absichtlich, verlaufe, steht auf einem anderen Blatt. Ich mag Überraschungen. Weil es zum Wesen der Überraschung gehört, sich hinter dem Horizont oder unter dem Radar zu verstecken. Vielleicht gehört das ja mit zu dem, was mich – hoffentlich – vom klassischen Strandliegetouristen im durchbespaßten All-inc-Resort unterscheidet. Nicht dass ich das irgendwem verbieten oder vermiesen möchte. Eines der wenigen Dogmen, die ich akzeptiere, lautet nicht ohne Grund "Regel eins: Jedem Seins".

Foto: thomas rottenberg

Aber verstehen muss ich trotzdem nicht alles. Nein, das wird jetzt kein Exkurs über die typische All-inc-Club-Gast-Erwartungshaltung, dass Essen, Sprache, Gerüche und Umfeld nicht nur billig, sondern exakt so wie daheim sein sollen. Dass man sich keine Sekunde dafür interessiert, was und wer außerhalb der Clubmauern zu finden ist – abgesehen von Fake-Designer-Outlets. Dass man das Meer und alles, was sich darin befindet, als Feind betrachtet, dem man nur durch Nahe-am-Pool-liegen (Liegenreservieren inklusive) entkommt. Was ich da schlicht nicht verstehe: Wieso bleibt man dann nicht gleich daheim? Respektive: Wieso baut man keine vollklimatisierten Club-Kuppeln für billige Pauschalurlaube? Wenn man Skihallen baut, muss das doch auch gehen. In den steril-seelenlosen Industrie- und Shoppingagglomerationen in den Speckgürteln ist doch genug Raum – und allein das Vermeiden des Horrors "Charterflieger" … okay, sorry, es wurde doch ein Exkurs.

Foto: thomas rottenberg

Aber wenn ich schon herumfabuliere, hänge ich hier noch einen letzten Gedanken an: Wenn der Geiz-ist-geil-und-im-Ausland-ist-sowieso-alles-schlecht-All-inc-Bespaßtwerdenwill-Tourist sich all das, was er ohnehin nicht will, erspart, wäre das nicht nur für Ressourcen und Umwelt fein – sondern auch für Menschen wie mich: An den schönsten Orten der Welt gäbe es dann weniger schlechtgelaunte Herden sonnenverbrannter Nörgler – und die Leute, die sich tatsächlich für Gegenden, Kulturen, Menschen, Geschichte, Sprache, Küche und Wasweißichdennoch interessieren, hätten mehr – sagen wir mal – "Bewegungsfreiheit". Und die Urlaubsindustrie würde trotzdem weiterleben.

Foto: Thomas Rottenberg

Ja, ich weiß: Das ist illusorisch und weltfremd. Und kann mir auch als Arroganz und Überheblichkeit ausgelegt werden. Denn: Wer hat das Recht, anderen das bewegungslose Braten in der Sonne zu verbieten? Oder zu vermiesen? Ich sicher nicht: Regel eins gilt. Auch und gerade für die und für das, was ich nicht verstehe.

Ganz abgesehen davon: Man kann ja ausweichen. Das kleine Abenteuer beginnt nämlich nicht erst beim (Massen-)-Trekking in Nepal, sondern drei Meter neben der kontrollierten Komfortzone. Der unschlagbare Vorteil: Man kann jederzeit zurückswitchen. Und aus der luxuriösen und komfortablen Behaglichkeit heraus – und solange das Wifi funktioniert – die Rückbesinnung einfordern. Die der anderen, versteht sich.

Foto: thomas rottenberg

Südsardinien ist ein großartiger Ort zum Scheinheiligsein. Oder aber um beim Soft-Trail-Laufen ein bisserl drüber nachzudenken. Eben weil man schon wenige Meter neben der Straße alles findet, was das Herz sich da nur wünschen kann. Steinige, staubige, steile Pfade durch die Macchia. Sand und Klippen. Endlose Blicke, die sich hinter jeder Biegung anders und doch irgendwie ähnlich präsentieren.

Buchten, in denen auf einsamen Segelyachten andere "Individualisten" ihren Teilzeitausstieg aus der systematisiert-isozertifizierten Alltagsfreizeitkultur zelebrieren – und sich mangels sicht- oder hörbarer Nachbarn auch eine Prise "Solitude-Light" gönnen. Es sei ihnen vergönnt: Träume sind schließlich nicht dazu da, um zerpflückt zu werden: Sie wollen und sollen geträumt werden. Und umgesetzt: Habe ich "Regel eins" schon erwähnt?

Foto: thomas rottenberg

Mein Ziel an diesem Morgen war Capo Boi. Eine kleine Halbinsel im Golf von Cagliari mit einem – vermutlich – mittelalterlichen, halb verfallenen Wachturm. Google verriet mir relativ wenig über dieses kleine Eck. Im "Rough Guide Sardinia" wird der Fleck immerhin erwähnt. Als Hügel mit Turm, in dessen Umgebung es ein paar kaum zugängliche und nicht ganz leicht zu findende sandige Traumstrände gibt, an denen die Touristenströme, die die Gegend um Villasimius in den letzten Jahren doch erreicht haben, mangels bequemer Erreichbarkeit vorbeiziehen.

Der Turm auf dem Hügel über dem Meer selbst ist unspektakulär – aber die Wege und Pfade dorthin waren und sind jeden Schritt wert. Nicht nur wegen des Sonnenaufgangs.

Foto: thomas rottenberg

Aber ganz allein ist man dann natürlich doch nicht: Beim Umrunden des Turms kamen mir die ersten Spaziergänger entgegen. Ein einsamer Moutainbiker, der – tatsächlich – weiße Handschuhe trug.

Foto: thomas rottenberg

Irgendwann dann ein heftig streitendes deutsches Paar: Soweit ich verstand, war sie unglücklich, dass er jammerte, dass seine Schuhe staubig wurden. Außerdem habe er noch nicht gefrühstückt, und er verstehe sowieso nicht, was er hier draußen solle. Und laufen sei sowieso doof. Manche Menschen brauchen das. Jedenfalls wirkten die beiden weder unglücklich noch unroutiniert. Sondern gut eingespielt. Regel eins …

Foto: thomas rottenberg

Weil der Deutsche über seine Schuhe gejammert hatte, sah ich kurz auf meine: Dass sie am Strand nass und sandig und am Trail dann staubig geworden waren, war mir wurscht. Laufschuhe haben zu funktionieren – und sonst gar nix. Aber mit einem (für meine Begriffe) schnellen Straßenschuh hier unterwegs zu sein, war nicht die schlaueste Entscheidung gewesen: Natürlich geht so was. Und natürlich macht Laufen auf solchen Böden auch mit solchen Schuhen Spaß.

Foto: thomas rottenberg

Aber dort, wo es dann wirklich steil war, wo Sand und lose Steine rutschten oder größere Brocken unter dem Fuß kippten oder wackelten, wo Umknöcheln und Einknicken einfach nicht passieren durfte, fragte ich mich dann schon, ob ich beim Packen in Wien ein bisserl blöd gewesen war – oder vergessen hatte mitzudenken. Nicht dass man mit einem festen und solide profiliertem, leichten Trailschuh nicht auch aufmerksam, bewusst und achtsam laufen muss – aber vom Unterschied kann ich Lieder singen. Gerade bei meiner Vor- und Verletzungsgeschichte ist Trittsicherheit ein echtes Thema.

Foto: thomas rottenberg

Egal – weil es funktionierte. Und um schnell zu sein oder über Tempofragen nachzudenken, war die Gegend ohnehin viel zu schön: Ich laufe, um zu genießen. Und dieser Lauf war Genuss pur. In jeder Hinsicht – bis zur letzten Sekunde. Die war natürlich länger. Dauerte ein paar Minuten – und ging, wieder zurück, ein paar Mal den Sandstrand auf und ab. Barfuß. Knöcheltief im Wasser: Superanstrengend – aber eines der feinsten Laufgefühle, die man Füßen, Zehen, Fersen, Ballen, Knöchel und Sprunggelenk gönnen kann.

Foto: thomas rottenberg

Vor allem, wenn es dorthin führt, wo dieser Lauf dann endete: ganz im Wasser. Fürs Erste – vor dem Frühstück – erst einmal nur so. Schließlich war ich ja eigentlich deshalb hierhergekommen. Mit einem Profi: mit Christian Redl.

Foto: thomas rottenberg

Der sah mich dann – als ich geduscht und mit einem fetten Hutschpferdgrinser zum Frühstück antanzte – nur kurz an und erklärte, dass er sich die Frage, ob sich das frühe Aufstehen denn wirklich gelohnt habe, nun spare: Gerade als Taucher wisse er, dass es für manche Dinge weder Worte braucht noch Worte gibt. Da sei er in seinem Element – und dorthin würden wir – Redl, unser Kameramann Christian Schlamann und ich – uns jetzt zügig begeben: Unter Wasser nämlich. Aber das ist eine andere Geschichte – und gehört nicht hierher. (Thomas Rottenberg, 24.8.2016)

Foto: thomas rottenberg
Foto: screenshot