Toomas Hendrik Ilves nimmt Abschied vom Präsidentenamt.

Foto: APA/AFP/FREDERICK FLORIN

Tallinn/Wien – Am Montag steht in Estland die Wahl des nächsten Staatspräsidenten an, vier Kandidaten stehen zur Auswahl: zwei aus Mitte-rechts-Parteien, eine von den Linkspopulisten und ein weiterer von den Rechtsnationalisten.

Als Favorit wird Siim Kallas gehandelt. Der Expremier, frühere EU-Kommissionsvize und Verkehrskommissar geht für die wirtschaftsliberale Reformpartei ins Rennen. Den Platz leicht rechts der Mitte macht ihm Parlamentspräsident Eiki Nestor von den Sozialdemokraten streitig, die in Estland keine linke Partei sind. Das ist dafür die Zentrumspartei, für die Ex-Bildungsministerin Mailis Reps antritt. Allar Jõks ist Kandidat der Rechten und Nationalisten.

Dass schon am Montag ein neues Staatsoberhaupt feststeht, ist vorerst alles andere als sicher. Denn Estland leistet sich eines der weltweit komplexesten Wahlsysteme für das höchste Staatsamt: Zunächst versuchen die 101 Abgeordneten im Riigikogu, dem Parlament, in insgesamt bis zu drei Versuchen einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu wählen. Für die Wahl ist jeweils eine Zweidrittelmehrheit (68 Abgeordnete) erforderlich, wobei im dritten Wahlgang nur noch zwei Kandidaten gegeneinander antreten.

Wahlkollegium als letzter Ausweg

Wenn auch das nicht klappt, muss ein Wahlkollegium einberufen werden, dem neben den Parlamentsabgeordneten auch eine erst zu ermittelnde Anzahl von Kommunalvertretern angehört. Bei dieser Wahl können wieder neue Kandidaten oder Kandidatinnen nominiert werden. Der amtierende Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves, der nach seiner zweiten Amtszeit vorerst nicht mehr antreten darf, wurde vor zehn Jahren von einem solchen Kollegium ins Amt gewählt, seine Wiederwahl im August 2011 gelang hingegen schon im Parlament.

Zuletzt gingen Meinungsforscher auf Basis von Umfragen unter den Abgeordneten davon aus, dass nur Kallas und Nestor eine theoretische Chance auf eine schnelle Wahl im Parlament haben. Die rechtsliberalen Regierungsparteien haben zusammen aber nur 45 Abgeordnete, sie brauchen mindestens 23 weitere Stimmen. Als relativ sicher gilt, dass etwa 15 Abgeordnete der Zentrumspartei bereit wären, die eigene Kandidatin fallen zu lassen.

Vorwurf der Intransparenz

Da die Wahl geheim ist, sind Absprachen mit potenziellen Abweichlern Tür und Tor geöffnet. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass es mit der Parteidisziplin in Estland nicht allzu weit her ist. Das Wahlsystem wird wegen seiner Intransparenz immer wieder von verschiedenen Seiten heftig kritisiert. Der Gründungspräsident des neuen Estland, Lennart Meri, schlug schon 1993 vor, den Präsidenten künftig vom Volk wählen zu lassen.

So richtig dem Volk überlassen will man die Entscheidung für die Besetzung des symbolisch wichtigen Amts jedoch offenbar nicht. Zu sehr befürchtet man in Tallinn seit jeher die Einflussnahme durch Moskau, das sich seit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 als Schutzmacht der rund 25 Prozent starken russischen Sprachminderheit in Estland sieht. (Andreas Stangl, 26.8.2016)