Annika Serfass: Digitalisierung ist zentrale Führungskompetenz.

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STANDARD: "Leadership Revisited" ist eines Ihrer Workshop-Formate. Wo und wie muss sich demnach Führung erweitern, neu aufstellen?

Serfass: Grundsätzlich geht es im schneller und stärker wechselnden Feld von Komplexitäten und damit von Führungsherausforderungen darum, eine Art "Style-Switch" zu erlernen. Es geht also um eine Erweiterung des Repertoires. Diese Komplexitätsbewältigung geht ja auch mit agileren und flexibleren Strukturen und Prozessen einher – so wird die Gestaltung des strukturellen Kontexts immer mehr zur Führungsaufgabe. Eine solche Designkompetenz kann nicht mehr an Berater und Externe delegiert werden, weil weder Prozesse noch Strukturen mittelfristig geplant und für mehrere Jahre eingeführt und umgesetzt werden können. Einen stabilen Rahmen mit sich anpassenden Strukturen zu bauen ist eine Führungsaufgabe, die momentan viel Suchbewegung auslöst, aber in den wenigsten Unternehmen gut funktioniert.

STANDARD: Das ändert ja auch die Beziehungsstrukturen in der Organisation ...

Serfass: Ja, es geht damit zunächst einmal eine veränderte Beziehung der Führungskraft zum Unternehmen einher. Es braucht mehr Verantwortung für die Führungskraft und größere Entscheidungsspielräume – allerdings mit engen Abstimmungsritualen zwischen Key-Playern und Bereichen.

STANDARD: Noch mehr Belastung?

Serfass: Da sind wir schnell bei der Sicherung der eigenen Arbeitsfähigkeit, das stimmt. Persönlich geht es verstärkt darum, die eigenen Grenzen auszuloten und diese zu achten, nicht gewaltsam bis zum Anschlag auszudehnen. Das ist die notwendige Investition in die eigene Resilienz. Im Kontext von "Leadership Revisited" bedeutet das, sich viel mehr mit den Führungskollegen abzustimmen und gemeinsam die Herausforderungen zu bearbeiten. Im Team wie in der Mannschaft.

STANDARD: Führung als Mannschaftsleistung?

Serfass: Wir sehen immer wieder, dass die Leistungsfähigkeit und Agilität der Führungsmannschaft als Kollektiv der Funktionen, Ebenen, Märkte, Herkünfte ein essenzielles, aber leider unterbelichtetes Feld der Unternehmensentwicklung ist. Tragfähige Kooperationen, aufgebautes Vertrauen, eine gemeinsame Verortung über Herkunft, Dynamik und Zukünfte entwickelt zu haben, sind gerade für turbulente Zeiten ein Trumpf, der durch nichts zu ersetzen ist.

STANDARD: Das ist ein Prozess, schnell geht das wohl nicht.

Serfass: Ja, und es ist eine Investition. Zu der gehört auch ein gemeinsames Verständnis davon, welche Führungsfelder zu bearbeiten sind und mit welchen Indikatoren und Radarsystemen sie gesteuert werden sollen.

STANDARD: Und wer ist der Star in der Mannschaft?

Serfass: Um die Analogie aus dem Sport, aus dem Fußball, zu bemühen: Top-Mannschaften zeichnen sich nicht mehr durch einen überragenden Akteur aus, sondern verteilen die Last auf mehrere Schultern. Nach Berti Vogt: "Der Star ist die Mannschaft." Sich im Kollektiv am intelligentesten bewegen – das erfordert permanente Aufmerksamkeit und geübte, selbstverständliche Abstimmung der einzelnen Akteure. Jeder nimmt wahr und bewegt sich in seinem Areal, allerdings in Bezug auf das große Ganze.

STANDARD: Führung war immer ein sozialer Prozess ...

Serfass: Natürlich. Neu ist aber der Community-Gedanke. Steigende Anforderungen und die Notwendigkeit dichterer Vernetzung machen Führung vermehrt zu einer Community-Leistung der Umsetzer. Dazu braucht es auch den Blick über das eigene Areal hinaus.

STANDARD: Engagement und Aufmerksamkeit sind eine vielersehnte, immer knapper werdende Ressource für Unternehmen und damit für ihre Führung. Was ist zu tun?

Serfass: Mitarbeiter wollen nicht mehr nur eine Zahl oder ein kleines Rädchen sein, ohne den Gesamtkontext zu verstehen. Führungskräfte müssen genau hier Vermittler sein und den Beitrag der einzelnen Mitarbeiter erklären, nachvollziehbar machen. Un ter der jetzt so vielzitierten Sinnfrage wird ja nicht der Lebenszweck abgehandelt – wohl aber, in welchem Zusammenhang man wofür da ist und wofür geleistet werden soll. Zunehmender Druck, weniger Ressourcen für mehr Output: Das verlangt von Führungskräften auch, den materiell-psychologischen Kontrakt zwischen Mitarbeiter und Unternehmen immer wieder auszubalancieren, konkret auszugestalten und weiterzuentwickeln.

STANDARD: Motivation, heute eher als Engagement und eigenverantwortliches Commitment bezeichnet, lässt sich ja nicht instruieren, auch nicht verhandeln. Aufpeitschen geht auch nicht. Wo hat Führung da überhaupt eine Chance, zu bewegen, zu stärken?

Serfass: Führung, die nicht instruktiv-programmatisch unterwegs ist, sondern sich als aufgeklärte Führung versteht, hat fünf Handlungsfelder, um Motivation und Commitment zu nähren und zu verstärken. Es geht zunächst darum, das Was, Warum und das Wohin zu verstehen und verständlich zu machen. Was sind die Erwartungen an Leistung? Wie passt diese in den Unternehmenskontext, und warum ist sie wichtig und sinnvoll? Erst dann kann abgeglichen werden, ob diese Erwartungen und Ziele realistisch und erstrebenswert sind. Um den Kontext begreifen zu können, braucht es klare Kommunikation, die einen Bezug zu Vergangenheit und Zukunft herstellt und die anstehenden Aufgaben in diese Metaerzählung einbettet. Um zu beurteilen, was geleistet werden kann, muss erst einmal klar sein, auf welche Wissensvorräte und auf welche bisherigen Erfahrungen aufgebaut werden kann. Die Betreffenden müssen ein realistisches Bild ihrer eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen haben und Gelegenheit erhalten, sich Fehlendes anzueignen. Außerdem müssen sie natürlich befähigt sein, in puncto Ausstattung des Arbeitsplatzes ihre Aufgaben auch tatsächlich zu erledigen. So weit also zum "Können". Daran schließt das "Dürfen" an: Die Mitarbeitenden müssen nicht nur formal ermächtigt werden, entsprechende Verantwortung und entsprechende Entscheidungskompetenzen erhalten, sondern auch informell, das heißt, die Unternehmenskultur muss das auch zulassen.

STANDARD: Was bedeutet das konkret?

Serfass: Zum Beispiel muss die Aufforderung, auch offen Kritik zu äußern oder "mal ganz frei und kreativ dahinzutun", konkret in der Arbeits- und Führungsbeziehung möglich, lebbar, gewünscht und anerkannt sein. Qualifiziertes Feedback und Mentoring zum Einüben neuer nötiger Kompetenzen ist ebenso ein Feld, das dazugehört. Und dann ist da noch das Wollen: Nur wer sich entscheidet, mitzuwirken, der will das auch.

STANDARD: Aber es gibt doch auch Leute, die wollen einfach einen Job machen und nicht gleich mit unternehmerischem Spirit mitwirken ...

Serfass: Ja, es will auch nicht jeder viel Verantwortung tragen. Hier sind wieder Grenzen dessen auszubalancieren, was Unternehmen von ihren Mitarbeitenden erwarten dürfen – und umgekehrt.

STANDARD: Wie spielt da überall der Changebringer – oder das Angstthema Digitalisierung hinein?

Serfass: Für Führungskräfte geht es darum, dieses Thema kontinuierlich in das Monitoring der eigenen Handlungsfelder aufzunehmen. Was bedeutet das für Changeprozesse, die eigene Abteilung, die Branche? Die größte Schwierigkeit dabei ist wohl das Timing – also Maßnahmen nicht vorschnell, aber auch nicht zu langsam zu setzen. Die Gefahr, viel Geld zu verbrennen, ist ja riesengroß. Mir gefällt in diesem Zusammenhang die Annäherung und Haltung als "lernende Nutzer und nutzende Lerner" sehr gut. Die Digitalisierung wird dazu führen, dass jede Firma in gewisser Weise ein Technologieunternehmen wird. Digitale Geschäftstransformation integriert sich damit sowieso in jede Führungsverantwortung und ist sicher nicht an die IT delegierbar – sie kann zwar eventuell in der Startphase von einem Chief Digital Officer orchestriert werden, wird aber als zentrale Führungskompetenz in Zukunft nicht mehr wegzudenken sein. Das ist sehr ähnlich wie vor 20 Jahren all die Themen rund um das Change-Management. (Karin Bauer, 29.8.2016)