"Man hätte dem jungen Horváth vielleicht noch einen Partner gewünscht. Einen Lektor. Es gibt fantastische Sätze – und Momente, wo es ziemlich nebulos wird", sagt Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger.

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Wien – Mit der Uraufführung der unbekannten Tragödie Niemand (1924) aus der Feder des jungen Ödön von Horváth ist dem Wiener Josefstadt-Theater ein Coup gelungen. Im Gespräch erläutert Hausherr und Regisseur Herbert Föttinger die vertrackte Fabel: Kasper Lehmann ist der "verlorene Sohn" und Bruder des verkrüppelten Hausbesitzers Fürchtegott Lehmann. Dieser empört sich gegen Gott und stürzt sich im Treppenhaus seiner Zinskaserne zu Tode. Premiere ist am Donnerstag um 19.30 Uhr.

STANDARD: Es finden sich zahlreiche Nietzsche-Anklänge in der Tragödie Niemand. Aber Horváth hält die Motive nicht durch.

Föttinger: Horváth hat in diesem Stück alles Mögliche nicht durchgehalten. Figuren wie der unstete Vagabund Kasper beschreiben die Welt als einen negativen Kreislauf. Dann findet man wieder Anklänge an den Buddhismus.

STANDARD: Geht es um die ewige Wiederkehr des Gleichen?

Föttinger: Es gibt noch einen anderen spannenden Punkt. Soll die Figur des Kasper der "ewige Jude" sein? Aber, was viel schwerer wiegt: Ist er vielleicht ein Nazi?

STANDARD: Ein Nazi?

Föttinger: Enthält Niemand vielleicht nicht doch eine Kritik am heraufziehenden Nationalsozialismus? Hitler war 1924 schon vorhanden, die SA hat in München herumgewütet. Es gibt einen unfassbaren Hinweis darauf im Stück. Der ist mörderisch. Ich kann ihn nur leider nicht weiterverfolgen in meiner Inszenierung ...

STANDARD: Worin besteht er?

Föttinger: Da kommt ein Mädel in das Mietshaus hinein. Sie möchte ein Buch haben: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft.

STANDARD: Ein Herrenwitz? Solche gibt es bei Horváth viele.

Föttinger: Ich ging über diese Stelle lange Zeit hinweg. Ich dachte, der gute Horváth macht tatsächlich einen Witz. Doch ein Werk dieses Titels gibt es. Sein Autor heißt Hans Blüher. Der schuf die Wandervogelbewegung, au ßerdem war er ausschlaggebend für den nationalistischen Geist der SA. Er war Homoerotiker, und die SA war ein homoerotischer Verein. Hitler entschloss sich 1934, diesen Flügel abzuschneiden. Grund genug für Blüher, sich von ihm abzuwenden. Als Ge lehrter träumte er von einer edlen Führerfigur. Jetzt kommt dieser seltsame, kleinwüchsige Hitler aus Braunau am Inn, gewiss eine enttäuschende, unheldische Erscheinung.

STANDARD: Es gilt das Tucholsky-Wort: Hitlers Redekunst rieche "nach Hosenboden"?

Föttinger: 1934 war der Anlass für Blüher, sich von Hitler total abzuwenden. Dieses Buch sucht nun ein Mäderl in der Tändlerei Lehmann, bevor der Kasper auftritt. Genial! Was mache ich nun aber mit diesem Hinweis?

STANDARD: Dieses Wissen ist auf der Bühne schwer vermittelbar?

Föttinger: Das Mädchen wird in unserer Aufführung an den BDM erinnern. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob dieser Kasper schon ein nationalsozialistisches Parteimitglied ist. Ich glaube nicht. Aber er könnte es sein. Er dreht nur nie den Kragen um, dort, wo das Parteiabzeichen sitzen könnte. Gleichzeitig haben wir es in Niemand mit einer Kain-und-Abel-Geschichte zu tun. Ein religiöses Stück. Der eine Bruder sagt: Ich bekomme keine Liebe, sondern ernte als Krüppel nur Mitleid. Der andere sagt: Ich bekomme keine Liebe wegen eines Krüppels. Kasper erschlägt den verkrüppelten Fürchtegott nicht, aber er schlägt ihn. Und geht weg.

STANDARD: Also doch ein ewiger Jude?

Föttinger: Horváth bezieht nie eindeutig Stellung. Er könnte in Niemand auch als nihilistischer Buddhist durchgehen. Einzelne Figuren kehren als Doppelgänger wieder; Horváth inszeniert eine nihilistische Seelenwanderung.

STANDARD: Die Conclusio?

Föttinger: Horváth sagt: Wenn wir schon dazu gezwungen sind, in einer solchen Welt aus Dreck und Blut zu leben, dann aber nietzscheanisch! Wenn schon elend, dann als Übermensch. Ein solches Konglomerat macht die Aufführung des Stückes natürlich immens schwierig. Er schildert die Armen, die Elenden, die – mit Brecht gesprochen – nicht im Licht stehen, sondern im Schatten. Das alles füllt er aber mit den ethisch-religiösen Gedanken eines schwärmerischen 23-, 24-Jährigen.

STANDARD: Ohne noch die spätere Brillanz zu besitzen?

Föttinger: Die Dialoge sind noch nicht von dem Atem durchdrungen, den der Dramatiker zehn Jahre später hat. Noch steht hinter jeder Figur der Autor selbst, Ödön von Horváth, der Bekenner. Irgendwann, wenn der Dichter größer geworden ist, steht hinter der Figur – nur noch die Figur. Dann wird es wirklich gut. Später werden seine Sätze nicht mehr austauschbar sein. Er wird die Figuren sich selbst überlassen, und sie werden auf der Bühne ihre Kämpfe austragen.

STANDARD: Wann haben Sie von der Existenz des Stückes erfahren?

Föttinger: Ich habe vergangenes Jahr zufällig die FAZ gelesen. "Da wird ein Stück von Horváth versteigert ..." Ich wusste sofort: Das will ich haben.

STANDARD: Um den Preis, die Katze im Sack zu erwerben?

Föttinger: Selbst um diesen Preis. Im Nachhinein muss ich sagen: Ich wäre so gerne bei der Versteigerung dabei gewesen. 11.000 Euro sind in Wahrheit keine abschreckende Summe. Wenn ich an einen renommierten Dramatiker ein Auftragshonorar vergebe, liegt der Preis weitaus höher. Ich hätte das Fünffache hingelegt. Allein was an Tantiemen an diese Einrichtung wieder zurückfließt ...

STANDARD: Enttäuscht?

Föttinger: Ich freue mich doch für die Wienbibliothek. Ich habe eine Uraufführung gewonnen! Ich bin ja kein feiger Direktor. Die meisten Direktoren wollen sich absichern: "Ich spiele nur, was ich gelesen habe ..." Ich spiele auch, was ich nicht gelesen habe!

STANDARD: Die erste Lektüre hat Sie aber aufatmen lassen?

Föttinger: Ein großes Aufatmen. Ich halte das Bild des Mietzinshauses schon für total spannend, ein Konglomerat aus all den Orten, an denen sich Horváth aufgehalten hat, aus Wien, München und Berlin. Man hätte dem jungen Horváth vielleicht noch einen Partner gewünscht. Einen Lektor. Horváth wollte in Wahrheit alle seine Dramen aus dieser Zeit um 1923/24 vernichten. Es gibt fantastische Sätze – und Momente, wo es ziemlich nebulos wird. (Ronald Pohl, 29.9.2016)