Werner muss es wissen. Seit drei Monaten sitzt der Deutsche im Sattel und hat 8000 Kilometer zurück gelegt. "Ich bin einmal um die ganze Ostsee geradelt", erzählt der asketische Frühpensionist. Gerade passiert er die polnisch-deutsche Grenze auf der Insel Usedom, in zwei Tagen will er zurück sein in seiner Heimatstadt Rostock. "Der polnische Abschnitt des Ostseeradwegs ist zwar nicht immer perfekt ausgebaut, aber der landschaftlich schönste. Es gibt lange Sandstrände und Dünen – wie in der Sahara", sagt Werner. Eine Zufallsbekanntschaft zum richtigen Zeitpunkt – auf in Richtung Polen!

"Es gibt lange Sandstrände und Dünen wie in der Sahara " lautet das Urteil über die polnische Küste von einem, der die gesamte Ostsee mit dem Rad umrundet hat.
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In Świnoujście (Swinemünde), dem ersten Ort auf polnischer Seite, verläuft der Ostseeküstenradweg R 10 zunächst auf ramponierten Betonplatten mit sandigen Passagen. Nach gut einer Stunde ist der Badeort Międzyzdroje (Misdroy) erreicht. Viele Deutsche machen hier Urlaub, weil es deutlich billiger ist als auf Usedom, manche nutzen die Ferien auch zur Zahnsanierung. Eine Praxis wirbt mit dem Slogan "Deutsche Qualität und polnische Preise".

Griechischer Wein auf Polnisch

Auf der Strandpromenade geht es zu wie auf einem Kirtag, eine Holzbude mit billiger Kramuri reiht sich an die nächste. Ein Straßenmusiker schmettert den Schlager Griechischer Wein auf Polnisch, und vor dem Hotel Aurora spielt ein Südamerikaner Paloma Blanca auf der Panflöte, während aus einer Bar gegenüber lauter Techno dröhnt. Międzyzdroje, das ist Rimini auf Polnisch.

Man beginnt schon an Werners Urteil über die Schönheit der polnischen Ostseeküste zu zweifeln, als der Rummel in den dichten Wäldern des Woliński-Nationalparks ein abruptes Ende findet. Es geht vorbei an Wisentgehegen, in denen die sanften, bis zu einer Tonne schweren Riesen nachgezüchtet und dann in die Freiheit entlassen werden.

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Beim Woliński-Nationalparks passiert man Wisentgehege, in denen die sanften, bis zu einer Tonne schweren Riesen nachgezüchtet und dann in die Freiheit entlassen werden.
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Noch verläuft der R 10 etwas abseits des Meeres durch eine liebliche Heidelandschaft mit Birken und kleinen Seen. Nach gut 25 Kilometern erreicht der Radweg wieder die Küste. Zwischen Trzęsacz (Hoff) und Niechorze (Horst) hat sich das Meer weit ins Landesinnere hineingefressen. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das an der Ruine der Nikolaikirche in Trzęsacz, die im 15. Jahrhundert zwei Kilometer weit von der Ostsee entfernt erbaut wurde. Mehrere Sturmfluten verschoben das Steilufer immer weiter landeinwärts. So musste das Gotteshaus 1874 geschlossen werden, bevor es nach und nach die Klippen hinabstürzte, auch viele Gräber versanken im Meer. Um die traurigen Reste der Kirche zu erhalten, wurde die Steilküste aufwendig gesichert.

1600 Sonnenstunden im Jahr

Das Ostseebad Kołobrzeg (Kolberg) gilt wegen der über 1600 Sonnenstunden im Jahr, den Solequellen und der jodhaltigen Luft als beliebter Kurort. Doch die einst so schöne Hansestadt wurde 1945 fast völlig zerstört. Auf der gut ausgebauten Strandpromenade mit neuen Hotels lässt es sich immerhin bequem radeln. Der landschaftlich schönste Abschnitt des R 10 beginnt erst danach, bei Mielno, das früher Großmöllen hieß.

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Nach Mielno sollte man unbedingt im Winter wiederkommen. Die Stadt gilt als Kapitale der Eisbader.
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Mielno gilt als Welthauptstadt der Eisbader, die man in Polen "Walrosse" nennt. Sie treffen sich zwischen Oktober und März jeden Sonntag, um in der eiskalten Ostsee zu schwimmen. Am 14. Februar 2010 waren es über 1000 Frauen und Männer, die gleichzeitig ein Bad nahmen – damit war ihnen der Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde sicher. Ab hier verläuft der Radweg über Nehrungen, die an manchen Stellen weniger als 100 Meter breit sind. Auf der einen Seite liegt das Meer, auf der anderen von Schilf gesäumte flache Seen – Landepisten für Wasservögel.

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Im Slowinzischen Nationalpark mit seinen Wanderdünen bereitete sich das deutsche Afrikakorps auf seinen Einsatz in der Sahara vor.
Foto: Reuters / RADU-SIGHETI

Die wenigen Badegäste verlieren sich auf den kilometerlangen, von Dünen gesäumten Sandstränden, auch die Zahl der Radler ist überschaubar. Letztere sind bei Jarosławiec schon wieder im Landesinneren angekommen, eines der bescheidenen Dörfer, in denen die meisten Häuser zum Verkauf stehen. Im Fischerdorf Rowy treibt ein Bauer seine Kuhherde zusammen und deutet warnend in Richtung Himmel. Minuten später kommt ein Sturm auf, und es gießt wie aus Kübeln. Eine ältere Polin kommt mit ihrem quietschenden Fahrrad-Oldtimer des Weges und wirkt zunächst etwas ratlos. Dann stößt sie sich ab, winkelt die Beine an und rollt in der Straßenmitte durch den Gatsch.

Bilder für Expressionisten

Schon kurz darauf ist das Unwetter wieder vorbei, und ein Regenbogen überspannt den küstennahen See Jezioro Gardno. Ein paradiesischer Flecken Erde und ein Refugium für Hunderte von Vögeln, die im Frühjahr auf kleinen Schilfinselchen brüten. Viele Künstler ließen sich von der Schönheit dieser Landschaft in spirieren, darunter der Expressionist Max Pechstein.

Immer wieder kam Pechstein in den 1920er-Jahren an den See, der an den Slowinzischen Nationalpark mit seinen Wanderdünen grenzt. Die Dünen bewegen sich jährlich gute zehn Meter landeinwärts und begraben jede Vegetation unter sich. Das deutsche Afrikakorps bereitete sich in dieser Sahara im Kleinformat auf seinen Einsatz vor.

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Nach rund 500 Kilometern von Usedom ostwärts radeln, ist Danzig erreicht.
Foto: Reuters / Staff

Ab Krokowa berginnt der frisch asphaltierte Radweg, der einer alten Bahntrasse bis kurz vor Władysławowo folgt, der Stadt mit Polens größtem Fischereihafen. Von hier sind es noch rund 70 Kilometer entlang der dichtbesiedelten Küste bis nach Danzig. Besser, man wählt eine weniger verkehrsreiche Route und biegt auf die schmale Halbinsel Hel ab. Auf einem passablen Weg geht es 34 Kilometer weit bis ans Ende von Hel, von wo man mit einer Fähre nach Danzig übersetzen kann. (Ulrich Willenberg, 4.9.2016)