Wien – Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, in der großen, glamourösen Gesamtkunstwerkstatt Wiener Staatsoper. Macht das Flaggschiff des heimischen Kulturbetriebs zu wenig für zeitgenössisches Musiktheater? Ja. Ist man bei den Neuinszenierungen zu zaghaft? Auch. Nimmt die Auslastungsanbetung wahnhafte Formen an? Schon. Und doch ist die Staatsoper eine Sensation. 54 verschiedene Opern in 221 Vorstellungen: Das bieten andere Häuser in drei Saisonen an, nicht in einer.

Das Herz dieses Organismus, der so viele künstlerische Gewerke eint, ist das Wiener Staatsopernorchester. Und es war einfach verblüffend, in welchem Zustand sich das Zentralorgan des Hauses bei der Saisoneröffnung präsentierte: Puccinis Turandot wurde unter der Leitung des famosen Marco Armiliato fit, dynamisch und kraftstrotzend angegangen – von Kaltstart keine Spur.

Turandot, Puccinis Unvollendete, ist Monumentalfilmmusik, ist klingende Chinoiserie und ist auch ein schüchterner Flirt des Spätromantikers mit der Moderne. All diese Komponenten zeigten Armiliato – der Italiener dirigiert bald 20 Jahre am Haus – und das Staatsopernorchester so souverän wie packend auf. Was war das für eine Wucht, eine Glut und für eine Präzision, die da an den Sonntagabend gelegt wurde: umwerfend. Schon nach wenigen Minuten ging einem auf, wie man diesen Goldschatz, dieses Wunderwerkl im Graben vermisst hatte: sehr.

Die Qualitäten der Sänger reichten an das exzellente Niveau des Orchesters nicht ganz heran: Marcello Giordani, anstelle des erneut erkrankten Johan Botha besetzt, war ein reifer Calaf mit italoheldischem Timbre und soliden Spitzentönen, die sich gegen die mächtigen Orchesterwogen durchzusetzen wussten. Berührend Olga Bezsmertnas Liù, wenn es der kecke Stimmcharakter auch an Weichheit fehlen ließ.

Die schneidende Schärfe des Soprans von Lise Lindstrom als Turandot machte ihre Stimme speziell im 2. Akt zum Folterinstrument; die wärmende Liebe Calafs verhalf der emotional traumatisierten Eisprinzessin im Schlussakt auch zu einem Mehr an vokaler Gelöstheit und Gefälligkeit. Erheiternd Gabriel Bermúdez, Jinxu Xiahou und Norbert Ernst als Ping, Pang und Pong. Ein greiser Souverän mit Zitterhand und Zitterstimme: der großartige Heinz Zednik.

Die blutjunge, dauerschräge Inszenierung von Marco Arturo Marelli vermengt ein wenig Gesellschaftskritik und Komponistenpsychoanalyse mit viel Zirkusspektakel und ist optisch von einer trashigen, geschmacksfreien Hässlichkeit, die schmerzt. Beifall für alle, verliebtes Begeisterungsgeschrei für Armiliato und das Orchester. Die nächsten 220 Opernvorstellungen können kommen. (Stefan Ender, 5.9.2016)