Im Dialog mit den unerbittlichsten Gegnern der Gesellschaft: Religionspädagoge Diaw bekämpft hinter Gittern den Keim der Radikalisierung.

Foto: Urban

Wien – Deniz gibt seinen Aufpassern Rätsel auf. Höflich und korrekt ist der 22-Jährige, aber auch verschlossen im Gespräch. Eine Einzelzelle hat er sich ausbedungen, verweigert Fernsehen und andere Annehmlichkeiten, gliedert sich nur so weit ein, wie es sein moralischer Kodex zulässt. Kloputzen ist kein Problem – doch undenkbar, dass Deniz einen Job in der Küche annimmt: Er könne es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, Mitbewohnern etwas Böses anzutun, indem er ihnen Schweinefleisch serviert.

Er wolle nichts weiter, als ein Leben als frommer Muslim führen, sagt Deniz M.*, und genau das hat er auch vor ein paar Monaten vor Gericht behauptet. Geglaubt hat ihm die Justiz nicht. Laut gefälltem Urteil war er allein aus dem Grund nach Syrien gegangen, um für den "Islamischen Staat" zu kämpfen. Wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung fasste Deniz eine Haftstrafe von zwei Jahren aus.

Religionspädagoge soll "Radikalisierungspotenzial" ergründen

Wie tickt der junge Mann wirklich? Es ist Moussa Al-Hassan Diaws Job, Antworten zu finden. Im Auftrag des Justizministeriums schwärmen der Religionspädagoge und sein Team in die heimischen Gefängnisse aus, um – wie er sagt – in die Gedankenwelt der dort einsitzenden Jihadisten vorzudringen. Es geht dabei nicht darum, längst gefällte Urteile aufzurollen; vielmehr soll Diaw ergründen, wie viel "Radikalisierungspotenzial" noch in den Delinquenten schlummert – und dieses nach Kräften eindämmen.

Diaw spricht mit Menschen, die den Staat und dessen "Handlanger" ablehnen, er achtet penibel darauf, mühsam aufgebautes Vertrauen nicht eilfertig zu verspielen. Details, die einen Klienten erkennbar machen könnten, müssen an dieser Stelle deshalb verschwiegen werden, das gilt bis hin zum Namen der Haftanstalt.

Ein heller, moderner Bau ist es, den Diaw an diesem Morgen besucht, wären nicht die Gitter vor den Fenstern und der Stacheldraht auf den Mauern, ließe sich hier eine Schule vermuten. Insassen, die nur einmal täglich aus der Zelle dürfen, gibt es schon, doch für viele stehen die Türen tagsüber oder gar 24 Stunden lang offen. "Allein, dass jederzeit geduscht werden darf", sagt Vollzugsleiterin Silvia H.*, die früher in einem dieser beengten, überfüllten Häfn alten Stils gearbeitet hat, "nimmt viel Druck raus."

Frusterlebnis als Triebfeder

Wie viel Freiheit gewährt wird, liegt maßgeblich an H.s Urteil. Bei Häftlingen, die nach dem "Terrorparagrafen" 278b des Strafgesetzes angeklagt sind, ist jede Anstalt verpflichtet, schon ab Beginn der Untersuchungshaft einen Vollzugsplan maßzuschneidern. Die Beamtin H. trifft die Entscheidung nicht aus dem Bauch heraus, sie hört Psychologen und Sozialarbeiter an, studiert Gerichtsakte, Biografien, soziale Hintergründe – und baut auf die Expertise des von Diaw mitbegründeten Vereins Derad.

Diaw trägt einen graumelierten Bart, sein dunkler Teint verrät Wurzeln im Ausland – ein Startvorteil im Dialog mit Menschen, die sich vielfach deshalb der radikalsten Alternative zur westlichen Welt zuwandten, weil sie sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlten: "Sie haben nicht Religion, sondern Anerkennung und einen Sinn für ihr Leben gesucht."

Vom fehlenden Job bis zur zerbrochenen Beziehung reichten die Frusterlebnisse, eine große Rolle spiele die Empörung über internationale Konflikte mit muslimischen Opfern. Mitunter wirke der Anlass aber auch geradezu banal, sagt Diaw und erinnert sich an ein männliches Exmodel: In den Radikalismus getrieben habe ihn der Ärger, dass Medien über Muslime so abfällig berichteten – und die Gerissenheit der Rekrutierer, die das auszunutzen wussten.

Durch "Zufall" zum Jihadismus

Mit hochprofessioneller Propaganda legen Islamisten im Internet Köder aus, oft genug führt aber der Zufall Regie. Insasse Deniz etwa knüpfte den ersten Kontakt über eine Berufsbekanntschaft, für Diaw ist er einer dieser "typisch untypischen Fälle". Im Gegensatz zu vielen anderen Klienten, denen die Vaterfigur fehlt, hat der Bursche eine stabile Familie im Rücken. Und hochgebildet, sagt der Experte, sei er obendrein.

Bei genau dieser Qualität setzt Diaw den Hebel an. Eine lange Diskussion über islamische Geschichte führt er mit Deniz an diesem Tag, die beiden versteigen sich tief in theologische Details. Der Pädagoge argumentiert, dass die Verteufelung der Demokratie als "unislamischer Götzendienst" keinesfalls der klassischen Koranexegese entspreche, sondern ein Konstrukt späterer Epochen sei. Viel sei schon gewonnen, wenn sein Gegenüber einsehe, dass er in seiner "Peergroup" von alternativen Sichtweisen abgeschnitten war, sagt Diaw und sieht in Deniz gesunde Zweifel reifen: "Er wird im Gefängnis behandelt wie alle anderen, darf seinen Glauben ausleben. Der Staat kann also nicht so böse sein, wie er dachte."

Ideologisches Utopia

"Er dürfte sich aus seinem ideologischen Utopia gelöst haben", berichtet Diaw hinterher der Vollzugsleiterin, die eines besonders interessiert: Ist Deniz imstande, andere Insassen zu missionieren? Diaw hat schon manchen Menschenfänger kennengelernt, etwa jenen Mann, der es in kurzer Zeit schaffte, ein junges Mädchen zu überzeugen, im Ausland als Märtyrerin zu sterben. Doch so ein Typ sei Deniz nicht, glaubt er, zumal dessen asketischer Habitus in einem Soziotop, in dem Rauchen zu den größten Hobbys zähle, nicht zum Massenprogramm tauge.

Deniz möchte seine Ausbildung beenden, er scheint den Weg zurück in die Gesellschaft zu suchen. Doch was, wenn alles nur Theater ist? Inwieweit sind Jihadisten resozialisierbar? "Natürlich gibt es welche, deren Überzeugung unerschütterlich ist", sagt Diaw, und die dürfe der Verfassungsschutz nach der Entlassung nicht aus den Augen verlieren. Allerdings fehle es der Behörde an Spielraum, um islamistische Netzwerke restlos aufzudecken: "Sie müsste operieren dürfen wie ein Inlandsgeheimdienst."

Neben Polizeiarbeit brauche es jedoch genauso das "weiche" Programm: Streetworker in Parks, Prävention in Schulen, Gegenpropaganda im Netz und eben Deradikalisierungsprogramme für Häftlinge und Entlassene. Auch wer wegen Mordes einsitze, komme irgendwann frei, gibt Diaw zu bedenken: "Überlässt man diese Menschen sich selbst, ist der Zorn dann nur noch größer." (Gerald John, 8.9.2016)