"Lass dir nichts anhängen": Kampagne aus dem Jahr 2006, Konzept und Entwurf: Thomas Geisler und Christof Nardin.

Kollektiv Fischka/Kramar

Schuldgefühle nach dem Sex? Der Satz ist wie ein Strohfeuer. In den Augen der Befragten flackert ein Licht – interessantes Thema. Aber dann wird der Blick stumpfer, und als Antwort kommt meist nicht mehr viel. Manche sagen ganz definitiv: "Kenn ich nicht. Hab ich nicht." Andere eher: "Hmm, manchmal, vielleicht." Oder: "Früher, beim Onanieren." Die beiden großen S-Worte, Schuld und Sex, scheint nur noch ein schwacher Faden zu verbinden, wie eine dünner werdende Erinnerung an frühere Zeiten. Lange scheint es her, lebensgeschichtlich und historisch, dass Sex eine Sünde war. Aber etwas ist da trotzdem noch, eine Unruhe, und vielleicht ist sie doch stärker, als man auf den ersten Blick, aufs erste Gefühl hin meinen könnte.

Beim ersten Impuls aber fangen wir an. "Ich neige nicht dazu, mich im Bett schlecht zu benehmen", erzählt ein heterosexueller Mann mittleren Alters. Schuldgefühle habe er daher eigentlich nur, wenn er zu wenig verliebt sei. "Ich fremdel schon wieder, ich Sau", denkt es in ihm. Ohne weitere Konsequenzen. Schuldgefühle macht das Lügen, das Betrügen, das Wissen darum, dem oder der anderen etwas vorgemacht zu haben, oder auch, meint eine junge, heterosexuelle Frau kurz über 20, "in Gedanken ganz woanders gewesen zu sein". Sich nicht wirklich hingegeben zu haben. Unheimlich und nahe am beengenden Gefühl der Schuld sind für diese Frau auch eigene Fantasien, abgründig und erschreckend, die geheim gehalten sind und den Partner nicht miteinbeziehen. Schuldgefühle macht egoistisches Verhalten.

Allerlei Befleckungen

"Wenn ich zu sehr im Mittelpunkt gestanden habe", sagt eine andere heterosexuelle Frau, obwohl das nun wieder nicht so oft vorkomme. Manche Männer sprechen vom Schuldgefühl, eine Frau nicht befriedigt zu haben, oder umgekehrt, die Befriedigung des oder der anderen für eine Demütigung genutzt zu haben. Als die Beziehung schon ziemlich zerrüttet war, erzählt ein schwuler Mann, habe er seinen Freund aufs Bett geschmissen, es ihm richtig gut besorgt und dann gesagt: "Das war das letzte Mal."

Klassisch und legendär sind natürlich die Schuldgefühle beim sogenannten Fremdgehen, "vor allem, wenn der Seitensprung bei uns zu Hause im Ehebett stattfand". Das sollte so nicht sein. Wobei man vielleicht unterscheiden muss zwischen einem Schuldgefühl, das wünschte, etwas wäre nicht geschehen, und dem sprichwörtlich schlechten Gewissen, das sich herumquält, die Tat selbst aber nicht bereut. Wie viele Runden von Fremdgehen und Geständnis und wieder Fremdgehen hat die Welt nicht schon erlebt?

Es gibt die Schuldgefühle anderen gegenüber (dem/der Sexpartner_in, dem/der "betrogenen" Partner_in), doch wenn man sich selbst etwas schuldet, beim Sex gegen das eigene Selbstbild, die eigene Würde verstößt, wird Schuld zur heißen Scham. Freiwillig etwas getan zu haben, das man "eigentlich" nicht möchte, etwas mit sich machen lassen, was im Grunde ungut ist, nagt lange herum im Gedächtnis. Eine lesbische Frau erzählt, dass sie – noch vor ihrem Coming-out – einen schleimigen, weichlippigen Typen in der Disco küsste und dabei in Ohnmacht fiel. Mit Wasser aus der Blumenvase holte man sie auf die Tanzfläche zurück. Irgendetwas in ihr hatte sie vor dem Sex, der sicher gefolgt wäre, gerettet. Peinlich und unangenehm bis auf die Knochen sei ihm, dass er am Vorabend seiner Hochzeit von Freunden in einen schwulen Sexclub "entführt" worden ist, sagt ein bisexueller Mann. Weich von Drogen sei er auf dem Klo umgekippt und habe sich von allen möglichen Leuten ficken lassen. Er habe nicht herausgekonnt aus der Situation. "Wenn ich es genossen hätte, wäre es gut gewesen."

Eine Taxonomie der Schuldgefühle nach dem Sex kann nicht ohne das Thema Safer Sex auskommen. Sich selbst oder andere mit einer Krankheit angesteckt zu haben, ist sicherlich der manifesteste Grund für Schuldgefühle aller Art. Dass Aids als sexuell übertragbare Krankheit in den 1990er-Jahren nicht nur medizinisch so große Ängste auslöste, lag daran, dass HIV wie das leibhaftige Sinnbild einer zurückgekehrten göttlichen Strafe für sündige Befleckung anmutete. Seitdem man die Krankheit pharmakologisch aber halbwegs im Griff hat, inklusive HIV-Prophylaxe-Pillen, wird Sex ohne Kondom wieder en vogue. In Berlin, der kleinen Lasterhölle, kursieren die Geschlechtskrankheiten von Tripper bis zu Schlimmerem. Ein Bekannter schickte seinen sehr promisken Lover neulich zur medizinischen Untersuchung und seufzte bei dem Ergebnis dann doch erleichtert auf: "Alles gut bis auf die Syphilis."

Egoismus, Lüge, gesundheitliche Selbst- und Fremdgefährdung, Treuebruch sich und anderen gegenüber – das wären also die wesentlichen Gründe für Schuldgefühle nach dem Sex. So weit, so verständlich. Aber es geht noch ein Stückchen weiter. Denn die eigentliche Frage ist doch, wie Sexualität überhaupt mit Schuld verknüpft ist. Wo kommt das her? Ganz klar ist ja nicht, warum der Mensch sich nicht schlicht und genüsslich der Triebe erfreut. Warum bindet sich die Schuld, die Sünde, so stark an Sex und Lust?

In der Kirche

Das hat, so könnte man sagen, sowohl "anthropologische" als auch historische Gründe. Sexualität scheint per se eine heikle Sache zu sein und grundsätzlich mit einer archaischen Befleckungsangst verbunden. Die Vorstellung, dass es da etwas Reines und Unreines gebe im Zusammenhang mit dem Sex, oder ein Zuviel und Zuwenig, ist jedenfalls recht alt; und das Lob der Keuschheit ist keine Erfindung des Christentums. Das antike Griechenland verschrieb sich dem Motiv der Mäßigung. Hier ist noch keine Sünde im Spiel, oder Schuld, aber bisweilen eine Verachtung des Körperlichen. Im frühen Christentum verbanden sich diese antiken Motive mit einem gnostisch-dualistischen Weltbild des Kampfes Gut gegen Böse und der Vorstellung vom sündigen Menschen. In Endzeiterwartung verdammte der Apostel Paulus zwar nur die Unzucht, nicht die Ehe.

Aber besser als die Ehe sei eben die Keuschheit, meinte er. Ein paar Hundert Jahre später verstärkte der Kirchenvater Augustinus dieses Motiv zum typisch christlichen Muster sündiger Geschlechtlichkeit. Eine berühmte Stelle der Confessiones erzählt, dass ihm die Umkehr zum geistlichen Leben mit einem Paulus-Zitat gelang: "Ziehet an den Herrn Jesus Christus und hütet euch vor fleischlichen Gelüsten." Und auch sonst deutet Augustinus Keuschheit als den Willen Gottes: "Du befiehlst uns Enthaltsamkeit." Vermutlich erscheint Sex auch deshalb als "sündig" (also ungehorsam gegen Gott), weil weltliche Lust dazu verleitet, den christlichen Gott, der ja ein Liebender ist, zu vergessen: "Denn zu wenig liebt dich, wer neben dir noch ein anderes liebt, das er nicht um deinetwillen liebt."

Unbestreitbar haben Paulus und Augustinus der Sexualauffassung abendländischer Tradition einen gewissen negativen Twist gegeben und eine Entwicklung eingeleitet, in deren Verlauf Sexualität auch zum intimen Gegenstand der Gewissensprüfung, also des "Schuldregisters", wurde, bis hin zur Verdammung "sündiger Gedanken". Als befleckend gilt der Sexualakt in christlicher Tradition auch, weil er qua Fortpflanzung die Erbsünde weiterträgt. Wie lautet die alte Umschreibung fürs erste Mal: "die Unschuld verlieren". Was für ein Wort: "Un-Schuld". Als gebe es kein Gegenteil der Schuld, sondern nur ihre Negation.

Bedrückender als das Schuldgefühl, um das man weiß, ist aber dasjenige, das verborgen bleibt. Gefährlicher als die Schuld, die man spürt, ist die, die man vermeintlich nicht hat. Was die Verknüpfung von Schuld und Sex angeht, hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Psychoanalyse das Erbe der Kirche angetreten – niemand behauptet den Zusammenhang so stark wie sie. Freud sieht den ödipalen Inzestwunsch und die Angst vor seiner Bestrafung – also den "Kastrationskomplex" – am Ursprung des Schuldgefühls, das, selbst verdrängt, sich als Neurose und Symptom dann seinen Weg nach außen bahnt.

Interessanterweise entsteht dieser Theorie zufolge das Schuldgefühl gerade nicht aus der gelebten Sexualität, sondern aus der ungelebten: aus einer Triebhemmung. Die Macht des Über-Ich nährt sich, so die Vermutung, auch aus der verdrängten kindlichen Wut auf das Gesetz, das heißt, der Treibstoff für die sadistische Gewissensangst kommt nicht unbedingt von außen. Jedenfalls hat die frühe Psychoanalyse so eine Erklärung für das Paradox, dass ein schlechtes Gewissen oft umso größer ist, je weniger real passiert. Schuldgefühle entstehen demnach vor dem Sex, nicht nachher.

Auf der Couch

Gilt das alles aber heute noch? Abgesehen davon, dass auch in der Psychoanalyse die Sexualität nicht mehr die erste Geige spielt, scheint ja auch in der Gesellschaft selbst das "Gesetz des Vaters" (die große Kastrationsdrohung) beträchtlich an Macht zu verlieren. Die Zeiten werden säkularer, demokratischer und liberaler, Sex sowie auch Schuld scheinen emotional weniger aufgeladen, weshalb manche schon so weit gingen, das Über-Ich für tot zu erklären, oder aber – plausibler – von neuen, weniger repressiven Triebökonomien und "Neosexualitäten" zu sprechen. Gilt da noch, was Otto Rank als Ziel der Analyse formulierte, nämlich eine Befreiung "vom Zuviel des Schuldgefühls, unter dessen Normaldruck wir ja alle in unserem Kulturkreis leben"?

Einfach verschwunden ist der "Normaldruck" der Schuld nicht, eher werden die Dinge komplizierter. Eine Psychoanalytikerin aus Wien mutmaßt, dass sich die Triebkonflikte heute nicht mehr so sehr als Schuld-, sondern als Schamkomplexe äußern, weniger massiv als zu Freuds Zeiten seien sie beileibe nicht. Schuld beziehe sich eher auf ein Tun, Scham dagegen auf das gesamte Ich. Schuld hat man, Scham ist man.

In seiner Studie Schuld und Schuldgefühl sucht Mathias Hirsch nach einem neueren Ansatz bezüglich dieses Themas für die Psychoanalyse und unterscheidet vier Arten von Schuldgefühlen: ein "Basisschuldgefühl", eines aus Vitalität, ein Trennungsschuldgefühl und ein traumatisches. Nicht alle von ihnen stehen direkt in Verbindung zur Sexualität. Am plausibelsten scheint aber, wie Hirsch nahelegt, dass sexuelle Schuldgefühle immer etwas mit Trennung zu tun haben beziehungsweise mit dem paradoxen Setting, dass die Familie intimste Nähe und Bindung produziert, aber Inzest verbietet. Mit der eigenen gelebten Sexualität (auch mit der Masturbation) trenne sich das Kind, der adoleszente Jugendliche, im glücklichen Fall von der Familie. Vielleicht bleibt ein Stück dieses Schuldgefühls der Trennung, das mythisch ja schon seit Adam und Eva erzählt wird, in jedem Geschlechtsakt erhalten.

Nicht selten kommt es vor, dass Schuldgefühle dort auftreten, wo sie eigentlich nicht hingehören, und dort nicht sind, wo sie sein müssten. Wenn die erste eigentliche Frage zum hier verhandelten Thema war, warum sich überhaupt Schuld an Sex bindet, ist die zweite, was eigentlich mit dem Schuldgefühl – oder besser: dem Schuldbewusstsein – derjenigen passiert, die wirklich verbrecherisch bei der Ausführung sexueller Akte handeln. Wo bleibt das Schuldgefühl der Vergewaltiger und Missbrauchstäter oder -täterinnen? Dazu hört man nicht viel.

Was denkt, was fühlt ein Josef Fritzl, der 24 Jahre lang seine Tochter im Keller eingesperrt, missbraucht und sieben Kinder mit ihr gezeugt hat? Unglaublich und immer noch ein Rätsel ist, dass in einem, der ein Kind oder eine Frau oder einen Mann zum Sex zwingt, dass in einem, der dominiert, quält und zerstört, nichts sein soll, kein Gefühl der Schuld. Es sei abgespalten, verdrängt, geleugnet, so heißt es, umgebogen zum Schutz der eigenen Person, die zusammenbrechen würde unter der Last des Ungeheuerlichen. "Lieber Täter sein als Opfer von Schuldgefühlen", so geht der Mechanismus. Das Schuldgefühl ist dann nicht da. Oder vielmehr: Es ist woanders, beim Opfer.

Der unheimlichste Mechanismus an der Schuld ist nämlich, dass sie wandert, dass sie den Ursprungsort verlässt und dort gespürt wird, wo sie nicht hingehört. Auf Sándor Ferenczi geht das Konzept des "Introjekts" zurück. Das "traumatische Schuldgefühl", das infolge schwerer Gewalt oder Verlusterfahrung entsteht, ist der in die Seele des Opfers eingelassene Fremdkörper des Anderen, der die Grenze überschritten hat. "Die reale Schuld des Täters (die jener nicht anerkennt) wird zum Schuldgefühl des Opfers (das unschuldig ist), weil das Introjekt wie ein feindlich verfolgendes Über-Ich Schuldgefühle macht."

Schuld wird zugewiesen und angenommen, gerade im Bereich des Sexuellen, in dem Phantasma und Tatsache so schwer auseinanderzuhalten sind. Täter bläuen dem Opfer ein, dass sie ja das Flittchen seien; Opfer fühlen sich mitschuldig, weil sie glauben, sich nicht genug gewehrt zu haben, oder sie vermuten, sie müssten ja etwas falsch gemacht haben, also eine "Schuld" tragen, wenn sie so mies behandelt werden. "Das geschieht dir schon recht", ist so ein Gedanke, der eben da als sadistischer Introjekt-Stachel im Fleisch sitzt.

Unter der Decke

Schuldgefühle nach dem Sex? Der eigentliche Sprengstoff liegt nicht im Verbot von Sex und dessen Unterwanderung, sondern in der rhizomatischen Natur von Sexualität und Schuldgefühl, die beide eben oft dort stecken, wo man sie weder erkennt noch benennen kann. Im Laufe der Recherche hörte ich viele Erzählungen, aber logischerweise keine, die jenseits der Sprache liegen. Oft klangen sie krass und waren doch harmlos, wie etwa die Geschichte einer Kärntner Freundin, die wenige Tage vor der Feier der Erstkommunion von ihrer Mutter bei Doktorspielen erwischt wurde.

Große Aufregung und ein Dilemma. Das Kind konnte doch nicht befleckt den Leib Christi empfangen, aber Sünden beichten darf man traditionell erst nach der Erstkommunion! Die Mutter schickte ihre Tochter in einem Akt der Beschämung, der fast erotisch sein könnte, zum Priester, um eine Absolution sozusagen ante festum zu erbitten. Traumatisch habe das nicht gewirkt, meint die Freundin, sie habe es eher als befremdlich empfunden. Schuldgefühle nach dem Sex kenne sie nicht, sagt sie, wohl aber so etwas wie "ein ungutes Gefühl der Langeweile". (Andrea Roedig, 10.9.2016)