Geruhsam ausgebreitete Szenen in Schwarz-Weiß: "The Woman Who Left" erzählt von einer zu Unrecht inhaftierten Frau, die sich nach der Entlassung auf die Suche nach der Vergangenheit begibt.

Foto: Venedig Filmfestival

Die großen Erzählungen taugen nichts mehr. Oder doch? Die Filme der 73. Mostra von Venedig einte eine neue Lust am Ausprobieren. Sie führten mitten hinein in die Narration, in die Sprache, in die Lektüre. In Tom Fords Nocturnal Animals gerät die Lektüre eines Buches für die Leserin zur Begegnung mit ihrer Vergangenheit. El ciudadano ilustre ("The Distinguished Citizen") von Mariano Cohn und Gastón Duprat begleitet einen Nobelpreisträger (Oscar Martinez, als bester Schauspieler prämiert) an den Ursprung seiner Inspiration zurück. Lügen erweisen sich in François Ozons Frantz schließlich als die solidere Basis, um verfeindete Lager nach dem Ersten Weltkrieg wieder einander anzunähern.

Das sind nur drei Beispiele von Filmen, die am Samstagabend in Venedig mit Preisen ausgezeichnet wurden, jeder davon rückt die Frage des Fabulierens ins Zentrum. Erzählen heißt immer auch eine Position einnehmen. Für den philippinischen Regisseur Lav Diaz, in dessen Werk die Kataklysmen seines Landes ein Echo finden, gilt das umso mehr. Sein zweiter Film in diesem Jahr nach Lullaby to the Sorrowful Mystery, der auf der Berlinale gezeigt wurde, hat den Goldenen Löwen für den besten Film gewonnen.

The Woman Who Left, mit vier Stunden ein für Diaz' Verhältnisse noch relativ kurz dimensionierter Film, ist die Geschichte einer Rache. Horacia (Charo Santos-Concio) saß jahrzehntelang für einen Mord im Gefängnis, den sie nicht begangen hat. Plötzlich freigelassen, begibt sie sich auf die Suche nach der Vergangenheit. In geruhsam ausgebreiteten Szenen, deren Schwarz-Weiß-Kontraste digital noch nachgeschärft wurden, sammelt sie Indizien und dringt verstohlen in fremde Milieus vor.

Mehr als ein Racheengel

Diaz, dessen Filme in ihrer szenischen Dichte oft literarisch anmuten, hat sich diesmal an Tolstois Erzählung Gott sieht die Wahrheit, sagt sie aber nicht sogleich orientiert. Wiewohl weniger verschachtelt gebaut als frühere Filme, vermag auch dieser die Widersprüchlichkeiten einer Gesellschaft aufzufächern. Horacia ist mehr als ein Racheengel. Ihre Mission, den eigentlichen Übeltäter zu stellen und zu ermorden, weist über ein individuelles Anliegen hinaus. Genugtuung ist ein langwieriges Geschäft.

Wo Diaz mit dem Faktor Zeit arbeitet, gehen andere mit Verschränkungen vor. Tom Fords Nocturnal Animals, mit dem Großen Preis der Jury gewürdigt, stellt ständig Bezüge zwischen dem entfremdeten Dasein einer Galeristin (Amy Adams) und der Metaebene eines gewaltvollen Romans her, den ihr Exliebhaber (Jake Gyllenhaal) geschrieben hat. Rache wird zur Fiktion, zur Möglichkeit, Leid rückzuerstatten.

Fords mit elektrisierenden Oberflächen verführender Film versucht sich irgendwo zwischen David Lynch, David Fincher und Paul Verhoeven einzunisten. Seine erzählerische Konstruktion tritt ein wenig zu überdeutlich hervor.

In La región salvaje des Mexikaners Amat Escalante – er wurde ex aequo mit dem Russen Andrei Kontschalowski als bester Regisseur ausgezeichnet – gibt es einen bizarren Organismus mit Fangarmen, der eine Überwindung von Machismo und Homophobie verspricht. Das an den Body-Horror des frühen David Cronenberg erinnernde Wesen ist so etwas wie eine Orgasmusmaschine from Outer Space, die Sexszenen gehörten gewiss zum Merkwürdigsten, was das Festival zu bieten hatte. Escalante bleibt dennoch auf halbem Weg stecken. Anstatt eine Utopie zu formulieren, die die Heldin aus den Fängen ihres Ehemannes führt, verebbt der Film in etwas billigem Sarkasmus.

Zwiespältige Entscheidungen

So bleiben die Entscheidungen der Jury um den britischen Regisseur Sam Mendes eine eher zwiespältige Sache: Pablo Larraíns hochkonzentriertes Porträt der Kennedy-Witwe, Jackie, wurde immerhin für das beste Drehbuch gewürdigt. Emma Stone erhielt für ihre Leistung in Damien Chazelles Musical La La Land den Preis der besten Darstellerin.

Unverständlich indes die Auszeichnung für Kontschalowskis Paradise, der von der Beziehung einer russischen Adeligen mit einem SS-Offizier in einem Konzentrationslager erzählt. Die betuliche Darstellung wirkt bestenfalls anachronistisch. Ein Gegenbild dazu liefert Sergei Loznitsa mit seinem Dokumentarfilm Austerlitz. In statischen Aufnahmen filmt er Touristenkolonnen, die mit einem Audioguide ausgerüstet durch Sachsenhausen ziehen und dabei immer wieder für Selfies posieren.

Das KZ als Touristenattraktion wiegt Loznitsa präzise mit der Barbarei der Vergangenheit ab, wenn er in manchen Einstellungen raffiniert die Geschichte der Internierten in Erinnerung ruft. Implizit fragt dieser Film, ob wir die richtige Kultur gefunden haben, mit der Vergangenheit umzugehen. (Dominik Kamalzadeh, 11.9.2016)