Wege zur Partizipation: An Yto Barradas Installation "Salon Marocain", bestehend aus weichen, textilen Bauklötzen, dürfen und sollen Besucher selbst mitgestalten.

Foto: Iris Ranzinger

Wien – Unter prekären Lebensbedingungen finden Menschen oft zu besonderer Kreativität. Es ist dieser Einfallsreichtum, dem die Künstlerin Yto Barrada in ihrem Video Faux Départ (2015) nachspürt. Im Zentrum steht jene Schattenwirtschaft rund um die "Herstellung" von Fossilien, die sich in Nordafrika zwischen Atlasgebirge und Sahara entwickelt hat, seit dort Dinosaurierknochen gefunden wurden.

Das Video, eröffnendes Highlight der Personale The Sample Book in der Wiener Secession, führt in staubige Werkstätten. Menschen mit Atemschutzmaske bearbeiten in mühevoller Kleinarbeit Steine. Ob Fossilien hier bloß freigelegt oder künstlich hergestellt werden – quasi gefälscht – ist dabei nicht immer ganz sicher. Aber wohl auch nicht so wichtig: Die Touristen haben so und so ihre Freude an "prähistorischen" Souvenirs; die Arbeiter finden ein finanzielles Auskommen, oder zumindest ist ihnen das Überleben gesichert.

Ob eine Geschichte wahr ist oder gelogen, ist oft nicht so bedeutsam wie die unmittelbaren Auswirkungen, die sie beim Erzähltwerden zeitigt: In dieser Einsicht könnte man eine wesentliche Botschaft von Barradas Video sehen. Es ist eine nicht zuletzt im Hinblick auf aktuelle hiesige Wahlkämpfe bedenkenswerte. Barradas Blick ruht indes ganz auf seinem Gegenstand, konzentriert sich voller Empathie und Faszination auf seine Akteure, ohne deren vielleicht dubioses Geschäft zu verteufeln.

Strategien des Überlebens

Strategien des Widerstands und des Überlebens interessierten die 1971 in Paris geborene Künstlerin schon im Projekt A Life Full Of Holes (1998-2004): Sie dokumentierte Zustände des Wartens und Hoffens im Umkreis der Straße von Gibraltar, einem Schlüsselpunkt der Migrationsbewegungen von Afrika nach Europa. Zu Marokko hat Barrada, die an der Pariser Sorbonne Politikwissenschaften und in New York Fotografie studierte, dabei eine besondere Beziehung. Die Doppelstaatsbürgerin verbrachte hier Jahre ihrer Jugend.

Diese unmittelbare, nicht zuletzt emotionale Kenntnis durchdringt die Schau in der Secession. Zu sehen sind dort aber nicht etwa Fotos, sondern vor allem "Spuren" der marokkanischen Kultur, insbesondere Textilien: So findet man etwa eine fragile Stoffkugel, die aus Teppichfasern zusammengezwirbelt ist. Kunstvoll bestickte Taschentücher sind zu sehen. In einem Gurkenglas ist blitzblauer Kobalt ausgestellt, verweisend auf traditionelle Färbetechniken.

Letztere eignete sich Barrada auch selbst an, um sie nun in hübschen Farbtabellen "durchzudeklinieren". Wenn die Künstlerin dabei immer wieder das "Musterbuch" – The Sample Book – zitiert, ein eher westliches und kommerzielles Objekt, so sollen auch damit Fragen der Migration angesprochen sein. Immerhin sei, so Kuratorin Bettina Spörr, die Geschichte der Färbetechniken nicht zuletzt eine von Wanderungen und weitergegebenem Wissen.

Über das "Sample", die Probe, schlägt Barrada aber nicht nur Brücken zur Ökonomie, sondern auch zur Wissenschaft: Immer wieder bezieht sie sich auf jene Tabellen, die Geologen von den Gesteinsschichten der Erde anfertigen, variiert deren Muster und Farbgebungen – und führt die Wissenschaft dabei auch ad absurdum: Manches, was in großen, bunten Stickereien als "Schicht" präsentiert wird, wird wohl eher ein G’schichterl sein. (Roman Gerold, 12.9.2016)