"Das Netz gibt Menschen mit Behinderung eine eigene Stimme", sagt Ninia Binias.

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Laura Gehlhaar
Kann man da noch was machen?

Geschichten aus dem Alltag einer Rollstuhlfahrerin
Heyne Verlag 2016
256 Seiten, 10,30 Euro

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"Inklusion bedeutet für mich, ganz selbstverständlich überall hingehen und teilnehmen zu können, weil an Barrierefreiheit für gehörlose Menschen gedacht wurde", sagt Julia Probst.

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"Sollten Sie jemanden treffen, der an den Rollstuhl gefesselt ist, binden Sie ihn los!", prangt auf der Startseite von leidmedien.de. Der Ratschlag mit Augenzwinkern ist durchaus ernst gemeint. JournalistInnen, die über Menschen mit Behinderungen berichten, finden dort Tipps für ihre Arbeit und abschreckende Beispiele – so wie die gefesselten RollstuhlfahrerInnen.

Ein Rollstuhl sei keine Einschränkung, sondern ein Fortbewegungsmittel, das Bewegungsfreiheit und Teilhabe ermögliche, erklären die AutorInnen. Das angebliche Leiden behinderter Menschen ziehe sich wie ein roter Faden durch die mediale Berichterstattung, Menschen mit Behinderungen würden häufig einseitig und klischeehaft dargestellt, kritisieren die MacherInnen hinter dem Projekt. BloggerInnen und JournalistInnen mit Behinderungen werfen daher regelmäßig einen kritischen Blick auf die deutschsprachige Medienlandschaft, rezensieren Kinofilme oder den neuesten "Tatort".

Im Zentrum

Eine von ihnen ist Laura Gehlhaar. Die Autorin und Redakteurin hat soeben ein Buch mit "Geschichten aus dem Alltag einer Rollstuhlfahrerin" veröffentlicht, es trägt den Titel "Kann man da noch was machen?". Ein Satz, der sich auch in ihrem "Rollstuhlfahrer-Bullshit-Bingo" wiederfindet. "Du Arme, so hübsch und dann im Rollstuhl", lautet etwa die sexistische Variante der gesammelten Bullshit-Sätze aus alltäglichen Erlebnissen. "Toll, dass Sie trotzdem rausgehen", steht in einem anderen Feld. In der deutschsprachigen Medienlandschaft nimmt Gehlhaar dennoch positive Veränderungen wahr. "JournalistInnen sind durchaus offener geworden für neue Blickwinkel, sie wollen ihre Sache gut machen und den Lebensrealitäten behinderter Menschen gerecht werden", sagt Gehlhaar.

Aber auch Gegenbeispiele fallen ihr auf Anhieb ein. Dass ein Journalist vor kurzem berichtete, sie würde an ihrer Behinderung beziehungsweise an einer Muskelkrankheit leiden, empfand sie schlicht als arrogant. "Schließlich ist das ein Urteil darüber, wie ich mit meiner Behinderung umgehe. Ich leide nicht unter meiner Behinderung, sondern ich lebe mit ihr. Ich weine nicht jeden Abend in ein Kissen", sagt die Wahlberlinerin. Über ihren Alltag als Großstadtbewohnerin und Rollstuhlfahrerin, über berufliche Projekte, Liebesbeziehungen und barrierefreie Verkehrsmittel schreibt sie auch in ihrem Blog. Die zum Teil sehr persönlichen Einblicke haben sie zunächst durchaus Überwindung gekostet, erzählt Gehlhaar, doch es treibt sie die Motivation an, Lebenswelten behinderter Menschen – die keineswegs "am Rande der Gesellschaft" leben – sichtbar zu machen. "Das Internet hat meine Behinderung sichtbar und hörbar gemacht", schreibt sie in einem ihrer Blogbeiträge.

Märchenwelten

Ein Statement, dem auch Ninia Binias zustimmt. Die in Hannover lebende Moderatorin, Autorin und Poetry Slammerin betreibt ebenfalls einen Weblog und nennt sich dort Ninia LaGrande. Binias ist kleinwüchsig und verabscheut diesen Begriff eigentlich – obwohl sie ihn auch selbst verwendet, wie sie in einem Beitrag schreibt. Ihr Vater sei mit seiner Körpergröße von 1,93 schließlich auch kein "Großwüchsiger". "Das Netz gibt Menschen mit Behinderung eine eigene Stimme – sie müssen sich nicht mehr freuen dürfen, wenn irgendwo mal über sie geredet wird, sondern sie reden selbst", sagt Binias. Dass die Zahl der Online-AktivistInnen steigt und damit ganz unterschiedliche Perspektiven sichtbar werden, sei ein großer Gewinn, ist die feministische Bloggerin überzeugt.

Über Social Media entstehen wiederum neue Netzwerke, auch Laura Gehlhaar, die sie als "kluge und reflektierte Stimme" schätzt, hat Binias online kennengelernt. Wie ihre Blogger-Kollegin ärgert auch sie sich immer wieder über diskriminierende Sprache und klischeehafte Darstellungen. Zuletzt etwa über einen Nachruf auf den kleinwüchsigen Schauspieler Michu Meszaros in der "Süddeutschen Zeitung", in dem von "märchenhaftem Zauber", "Zwergen" und "piepsenden Stimmen" die Rede war. Unter dem Hashtag #keinZwerg kritisierten zahlreiche AktivistInnen den diskriminierenden Text, Binias postete ein Foto von sich mit einem Schild, auf dem "Ich bin ein Mensch! #keinZwerg" zu lesen war. Auf Facebook entschuldigte sich die Redaktion der "Süddeutschen" schließlich für Teile des Artikels.

Vorbilder

Binias steht aktuell als Poetry Slammerin regelmäßig auf der Bühne und moderierte im vergangenen Jahr zwei TV-Sendungen, als Teenagerin dachte sie darüber nach, sich zur Schauspielerin ausbilden zu lassen. "Ich habe es dann aber verworfen, weil ich davon ausgegangen bin, dass niemand jemals eine kleine Julia einen Romeo küssen lassen wird", stellt sie ernüchtert fest. Nicht nur Kleinwüchsige, sondern Menschen mit (sichtbaren) Behinderungen insgesamt sind in Film und Fernsehen wenig präsent. Und das, obwohl laut Zahlen des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2013 jeder achte Einwohner beziehungsweise jede achte Einwohnerin in Deutschland mit einer Behinderung lebt.

Selbst im feministischen Umfeld würden Sichtweisen von Frauen mit Behinderung und anderen mehrfach diskriminierten Menschen meist fehlen, sagt Binias. "Ich glaube, es braucht hier sowohl die Vorbildfunktion von Frauen mit Behinderung, die feministisch aktiv sind, als auch das Raumgeben an Frauen mit Behinderung." Argumente wie "Es hat sich keine gemeldet" oder "Ich kenne eben keine" lässt Binias nicht gelten.

Selbstverständliche Inklusion

Julia Probst setzt bei medialer Teilhabe schon bei den RezipientInnen an. Die gehörlose Bloggerin und Inklusionsaktivistin hat ihren Blog "Die Welt mit den Augen sehen" genannt und übt dort regelmäßig Medienkritik. Probst kritisiert, dass es im deutschen Fernsehen noch viel zu wenige Livestreams mit Gebärdensprache und Untertiteln gebe. Mit der größeren Sichtbarkeit könne zugleich dem vorhandenen Mangel an DolmetscherInnen entgegengewirkt werden, ist Probst überzeugt: "So wird mehr Menschen bewusst, dass es diesen Beruf gibt, zu dem man sich ausbilden lassen kann." Ihr Twitter-Account, dem fast 35.000 Menschen folgen, ist in Deutschland vielen Fußball-Fans bekannt. Während der Weltmeisterschaft 2010 startete Probst, die die Kunst des Lippenlesens beherrscht, einen Ableseservice und twitterte die Zurufe – oder Flüche – auf dem Spielfeld und der Trainerbank.

Die Aufmerksamkeit nutzt die Aktivistin für politische Forderungen. Aktuell ist das unter anderem der flächendeckende SMS-Notruf – ein barrierefreies Angebot, das in Österreich bereits umgesetzt wurde. "Inklusion bedeutet für mich, ganz selbstverständlich überall hingehen und teilnehmen zu können, weil an Barrierefreiheit für gehörlose Menschen gedacht wurde", sagt Probst. Mit ihrem Blog möchte sie letztendlich auch gegen die Barrieren in den Köpfen der Menschen ankämpfen. Dass Menschen mit Behinderung sich wohl in ihrem Körper fühlen und nur Barrierefreiheit und somit eine gesellschaftliche Teilhabe in allen Bereichen vermissen würden, stoße bei Nichtbehinderten häufig auf Unverständnis. Wenig verwunderlich, dass "Tapfer meistert sie ihr Schicksal" zu den Phrasen zählt, die bei leidmedien.de auf die Negativliste gesetzt wurden. (Brigitte Theißl, 15.9.2016)