Energisch und mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht ergreift Lukas (Name geändert) meine Hand und geht los. Besucher sind hier im Kindergarten des Bundes-Blindenerziehungsinstituts sehr willkommen. Der dunkelhaarige Bub weiß genau, wo die Garderobe ist, wo der Waschraum oder der Turnsaal. Er führt geübt durch seinen Kindergarten. Dass Lukas vollblind ist, merkt man nicht. Seine Kindergartenkollegen sind mit anderen Dingen beschäftigt, zwei Kinder sausen abwechselnd die bunte Rutsche im Turnsaal hinunter, zwei andere jausnen Brote, eine Pädagogin sitzt daneben.

Die Fingerkuppen ersetzen in vielen Bereichen des täglichen Lebens den Sehsinn, hier zum Beispiel beim Lesen. Das Erlernen der Braille-Schrift steht für alle sehbehinderten Kinder auf dem Lehrplan.
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Das Bundes-Blindenerziehungsinstitut im zweiten Wiener Gemeindebezirk besuchen blinde, sehende und sehbehinderte Kinder sowie Kinder mit erhöhtem Förderbedarf oder zusätzlichen Behinderungen, erklärt Direktorin Susanne Alteneder. Von der Frühförderung ab der Geburt, über Kindergarten und Volksschule bis hin zur Polytechnischen Schule und Vorbereitungslehrgängen auf das Berufsleben werden Kinder und Jugendliche hier auch blindenspezifisch ausgebildet, etwa in den Fächern "Lebenspraktische Fertigkeiten" oder "Orientierungs- und Mobilitätstraining".

Letzteres ist auch der Grund dafür, dass Lukas sich so souverän durch die Räume des Kindergartens bewegen kann. "Jedes Kind hat eine andere Herangehensweise, Orte zu erkunden", erklärt Sigrid Böhm, sie ist Sonderkindergartenpädagogin in Lukas' Kindergarten. Wichtig sei, die Kinder nicht zu führen, sondern sie in ihrem eigenen Tempo die Wege erkunden zu lassen. Ein Mobilitätstrainer, der selbst vollblind ist, unterstützt die Pädagoginnen einmal pro Woche. Schon im Kindergarten lernen die Kinder spielerisch den Umgang mit dem Blindenstock, wie Echolokalisation, also die Orientierung durch akustische Signale, funktioniert oder wie sie sich im Alltag an fremden Orten zurechtfinden können. Auch das Straßenbahnfahren oder Ausflüge in den Prater werden trainiert.

Selbstbestimmt leben

"Das Wichtigste überhaupt, das große Ziel unserer Ausbildung, ist das selbstbestimmte Leben unserer Kinder", erklärt Alteneder. Das sei vor allem anfangs ein harter Prozess, der schon im Kindergarten beginnen muss. "Für ein sehendes Kind ist es kein Problem, die Seite 27 im Schulbuch aufzuschlagen oder sich vor dem Turnunterricht umzuziehen. Blinde Kinder brauchen dafür länger." Eltern und Lehrer seien dann schnell dazu verleitet, zu helfen, Aufgaben zu übernehmen, doch das sei der falsche Weg. "Die Erziehung zur Selbstständigkeit ist mindestens so wichtig wie Lesen, Schreiben und Rechnen", sagt Alteneder. Auch von persönlichen Assistenten, wie es sie mancherorts für blinde Kinder gibt, hält sie deshalb nichts.

Um die blindenspezifische Ausbildung optimal zu gewährleisten und besser auf das einzelne Kind eingehen zu können, sind die Gruppen und Klassen im Blindenerziehungsinstitut klein. In einer Kindergartengruppe sind maximal zehn Kinder, in einer Schulklasse acht. "Das hat auch den Vorteil, dass der Geräuschpegel nicht so hoch ist. 24 Kinder, die in einer Klasse laut sind, bringen Impulse, können einem blinden Kind aber zu viel werden", sagt die Direktorin.

Dass sehende und blinde oder sehbeeinträchtigte Kinder miteinander unterrichtet werden, funktioniert gut, sagt Pädagogin Böhm. "Sehende Kinder kommen zu uns, weil auch für sie eine kleine Gruppe von Vorteil sein kann und weil das soziale Lernen für die Kinder sehr wertvoll ist", erklärt Alteneder. Außerdem werde dadurch Normalität geschaffen. "Das andere Kind ist halt blind" – das lernen sehende Kinder hier schnell, so Alteneder.

Sehreste fördern

Einen Eindruck von dieser Normalität bekommt auch, wer sich im Kindergarten des Instituts umsieht. Kinderzeichnungen hängen an den Wänden, bunte Matten und Kletterwände gibt es im Turnsaal, Spielsachen aus Holz oder Puppen liegen in Regalen. Nur wer etwas genauer hinsieht, merkt einen Unterschied, etwa am Spielwürfel für das Mensch ärgere dich nicht (siehe Bild). Anders als bei einem herkömmlichen Würfel sind die Augen nicht aufgemalt, sondern treten aus der Oberfläche hervor, um fühlbar zu werden. "Die meisten Spielsachen haben wir selbst umgebaut", erzählt Böhm.

Spielerisch lernen: Das geht nur mit speziellen Spielsachen. Wenn blinde Kinder Mensch ärgere dich nicht spielen, erfühlen sie am Würfel, ob sie einen Sechser erzielt haben.
Bernadette Redl


Und noch eine weitere Sache unterscheidet diesen Kindergarten von anderen: der Dunkelraum. In diesem Zimmer ist das Licht gedämmt, weiche Matratzen liegen auf dem Boden, ruhige Musik kommt aus Lautsprechern, Lichterketten, eine Lavalampe und andere Leuchtelemente blitzen im Raum auf. Auf einem von unten weiß beleuchteten Tisch liegen bunte, teilweise transparente Legosteine (siehe Bild). Licht und Schatten, hell und dunkel stehen hier im Mittelpunkt. Was dahintersteckt: Durch spezielle Lichteffekte soll jeder noch so geringe Sehrest stimuliert werden.

Dass Sehreste gefördert werden, ist, laut Alteneder, auch schon vor dem Kindergarten essenziell. "Diese Sehfrühförderung startet im besten Fall schon in der Stunde null, in dem Moment, in dem Blindheit oder eine Sehbehinderung beim Kind auftritt." Hier sind vor allem die Eltern gefragt. Pädagogen des Vereins Contrast, der im Bundes-Blindenerziehungsinstitut seinen Sitz hat, unterstützen Eltern und Kinder dabei.

Ordnung und Struktur

Beginnt die Förderung schon früh, ist ein blindes oder sehbeeinträchtigtes Kind später selbstständig und gut organisiert. Das ist vor allem in der Schule von Vorteil, wie ein Besuch in einer Klasse der Neuen Mittelschule im Blindenerziehungsinstitut zeigt. Maria (Name geändert) hält einwandfreie Ordnung in ihrem Schreibtisch. Für jedes Unterrichtsutensil gibt es einen fixen Platz, ihre Sonnenbrille etwa liegt in ihrer "privaten Lade". Mit einem gezielten Griff, holt sie sie heraus und lächelt dabei stolz.

Neben der Brailleschrift lernen die Kinder hier auch den Umgang mit Computern. Sie werden nach dem Lehrplan der Neuen Mittelschule und dem Lehrplan der Sonderschule für blinde Kinder unterrichtet. Besonders der Sportunterricht ist, wie bei den meisten Schülern, in Marias Klasse sehr beliebt. Julia(Name geändert), eine von Marias Klassenkolleginnen, zeigt voller Freude einen Pokal. Sie ist begeisterte Läuferin. Am Vortag hat sie sich bei einem Wettlauf einen der vordersten Ränge erkämpft und sich dabei gegen zahlreiche andere Kinder durchgesetzt, "sogar gegen Sehende", erzählt sie aufgeregt.

Keine Nachteile auf dem Land

Schulen und Kindergartengruppen wie im Bundes-Blindenerziehungsinstitut in Wien gibt es nicht überall in Österreich. Dadurch entstehen für Kinder in ländlichen Regionen aber keine Nachteile, sagt Alteneder. Besucht ein blindes Kind eine herkömmliche Schulklasse, spricht man von einem inklusiven Setting. "Blindenpädagoginnen unterstützen das Kind, seine Lehrer und Eltern für mehrere Stunden pro Woche. Diese Förderung gibt es österreichweit", sagt Alteneder. Wienweit werden aktuell etwa 25 Kinder, von der Volksschule bis zur Matura, in inklusiven Settings betreut.

Leuchtende Legosteine werden im Dunkelraum des Bundes-Blindenerziehungsinstituts verwendet, um Sehreste zu fördern.
Bernadette Redl


Derzeit herrscht Wahlfreiheit: Kinder und Eltern können sich individuell für eine Sonderschule wie das Bundes-Blindenerziehungsinstitut oder eine herkömmliche Schule entscheiden. Dass die europäische Bildungspolitik alle Sonderschulen bis 2020 abschaffen will, hält Alteneder für einen Fehler: "Nicht weil wir dann zusperren müssen, sondern weil dadurch enormes Fachwissen verlorengehen würde."

Austausch für Eltern

Das Blindenerziehungsinstitut unterstützt neben den Kindern, auch ihre Eltern. Der Elternverein organisiert regelmäßig Treffen zum Austausch. "Das gibt den Eltern das Gefühl, mit ihren Problemen nicht allein zu sein", sagt Alteneder. Auch Eltern und Kinder aus inklusiven Settings werden dazu eingeladen.

Im Bundes-Blindenerziehungsinstitut steht heute noch eine Konzertstunde auf dem Programm. Im Theatersaal treffen sich Schüler aus allen Klassen, um den Liedern auf der Bühne zu lauschen. Musikbegeisterte aus allen Jahrgängen haben Stücke einstudiert. Die Musiklehrerin führt durch das Programm. Um den blinden und sehbeeinträchtigten Kindern eine Idee davon zu geben, was auf der Bühne passiert, beschreibt sie genau, wer als Nächstes dran ist, was aufgeführt wird. Das Publikum hört aufmerksam zu. Ein blindes Mädchen begleitet sich selbst am Klavier, die Lieder hat sie selbst geschrieben. Als Nächstes ist ein Lied mit Tanzeinlage dran. Ein sehbeeinträchtigtes Mädchen bewegt sich rhythmisch nach rechts und links, dreht sich im Kreis. Nur wenige der Zuhörer können ihren Tanz sehen, doch am Applaus merkt man das nicht. Als Besucher hat man mittlerweile vergessen, dass diese Kinder blind sind, es macht keinen Unterschied. (Bernadette Redl, 17.9.2016)