"Die rechte Hand etwas weiter rauf, dann kannst du besser mit der linken Hand den nächsten Schlag abwehren," sagt Siniša Maletić. Der großgewachsene Wiener sagt diese Worte oft. Er ist Trainer und Lehrer unterschiedlicher Kampfkünste. Heute auf dem Programm: die von ihm selbst entwickelte Verteidigungstechnik SD8. "SD8 steht für Self Defense Eight. Also Selbstverteidigung in acht Bewegungen. In einer Stresssituation, wo man angegriffen wird, hat man nicht viel Zeit zum Überlegen. Also habe ich eine Technik entwickelt, die es meinen Schützlingen ermöglicht, sich sehr schnell aus einer bedrohlichen Situation zu befreien und sich in eine bessere Position zu bringen."

Wenn er seinen Schülern unterschiedliche Techniken beibringt, geht Siniša in dieser Aufgabe auf. Während des Trainings ist er in seinem Element. "Das ist das, was ich als meine Berufung sehe," sagt der sympathische Kampfkunsttrainer etwas bedeutungsschwer. Heute unterrichtet er viele Wiener in verschiedenen Kampf- und Selbstverteidungskünsten. Der Weg des ehemaligen Flüchtlings dorthin war aber nicht immer leicht.

Ein Sarajevoer Kind

Geboren 1988 in Sarajevo, wuchs er, wie er selbst sagt, in behüteten Verhältnissen auf. Da seine Eltern beide berufstätig waren, verbrachte er viel Zeit bei seinen Großeltern. "Man kann sagen, dass ich zu dieser Zeit von meinen Großeltern großgezogen wurde." Für viele Menschen von Balkan spielen die Großeltern eine große Rolle in ihrem Leben. "In Österreich ist es etwas anders, würde ich sagen. Bei uns in Ex-Jugoslawien war die Bindung zu den Großeltern sehr intensiv. Man sah sich beinahe täglich, in meinem Fall waren sie meine Eltern."

Kurz vor Kriegsbeginn wurde er seinen Großeltern entrissen. "Die Situation in Sarajevo wurde immer angespannter, so entschieden sich meine Eltern nach Wien zu gehen. Das war eine große Zäsur in meinem Leben. Obwohl ich noch so klein war, bekam ich vieles mit. Als wir dann in Wien immer länger und länger blieben, ohne meine Großeltern, war es sehr schwer für mich."

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Kampfkunst machte ihn ausgeglichener

Die Entfernung zu seinen geliebten Großeltern, aber auch die bis dahin unbekannte Situation, in Armut zu leben, machten ihn immer unruhiger. "Ich war ein sehr quengeliges Kind, zeitweise auch sehr aggressiv." Als dann in seiner Schulzeit auch noch Legasthenie diagnostiziert wurde, sammelte sich immer mehr Wut in ihm. Seine Eltern meldeten ihn daraufhin in einem Karatekurs an. "Das hat mir sehr gutgetan," erinnert sich Siniša. "Ich konnte mich austoben und lernte viel fürs Leben – insbesondere, ruhiger zu sein."

Karate wurde damals an seiner Schule angeboten – ein "Glücksfall", wie er meint: "Das war echt toll, dass ich in der Schule Karate üben konnte. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre ohne dieses Training. Ich hoffe sehr, dass das auch heute noch in der Schule angeboten wird. Den Kids, wie ich einst eines war, kann das sehr weiterhelfen."

Im Laufe der Jahre stieg sein Interesse an Kampfkünsten, und so trainierte er zusätzlich noch Judo, Wing Tsun, Boxen und Jiu-Jitsu; auch Thai-Boxen und philippinische Mixed-Martial-Arts-Techniken wie Arnis, Escrima und Kali kamen hinzu.

Es gibt nicht nur die Schule

Seine Schulzeit beendete Siniša mit 15: "Ich konnte einfach nicht mehr. Ich musste etwas anderes machen. Die Schule war nichts für mich. Man kann es auch so ausdrücken: Das Kampfsporttraining half mir nicht bei der Legasthenie. Aber es half mir dabei, Dinge, die ich wirklich mag und liebe, zu erkennen und an ihnen dranzubleiben."

Von dem Weg, den seine Eltern beschritten hatten, konnte er zusätzlich viel lernen. Beide sind aus Sarajevo stammende ausgebildete Juristen. In Wien hatten sie sich von unten nach oben gearbeitet. Leider sei es in Österreich so, dass man, wenn man die Sprache nicht gut beherrscht, gleich in die "Der kann nichts"-Schublade gesteckt werde, meint Siniša. "Mein Vater nahm viele Jobs an, um uns über Wasser zu halten. Zeitweise reparierte er Autos, dann arbeitete er am Flughafen und so weiter," erinnert sich Siniša.

Seine Mutter arbeitete – wie so viele Migrantenmütter – jahrelang als Putzfrau. "Erst nach zehn, elf Jahren, als wir die Staatsbürgerschaft erhielten, wurde es langsam besser." Da konnten seine Eltern auch schon besser Deutsch, und so erhielt seine Mutter einen Job als Gerichtsschreiberin. "Mein Vater versuchte es mit der Selbstständigkeit – und es ging auf! Seine Baufirma ist auch heute noch in Betrieb."

Siniša hat nach dem Ende seiner Schulzeit viel versucht. Er arbeitete zeitweise mit seinem Vater, aber auch als Türsteher, und fing vor einigen Jahren selbst an, Kampfkunst zu unterrichten. Heuer wagte er den Schritt in die Selbstständigkeit. Er folgte den Fußstapfen seines Vaters und gründete seine eigene Baufirma namens M-Tek Bau GmbH. "Ich stehe noch am Anfang, habe jetzt einen Auftrag in der Lugner City erhalten." Siniša ist zuversichtlich, dass er mit dieser Firma reüssieren wird: "Ein Schritt nach dem anderen."

Seine große Leidenschaft bleibt aber der Kampfsport. "Um finanziell zu überleben, habe ich die Firma – aber wie schon gesagt: Kampfsport zu unterrichten ist meine Berufung." Wichtig ist es ihm dabei, nicht zu lehren, wie man andere zusammenschlägt. "Selbstverteidigung steht bei mir im Vordergrund, aber auch, sich selbst kennenzulernen und dadurch ein besserer, bewussterer Mensch zu werden. Das wirkt sich in vielen Bereichen aus. Man erlangt mehr Ausdauer und eine bessere Konzentration. Man wird fokussierter und in Stresssituationen lockerer," sagt Siniša.

Doppelt zwiegespalten – Gretchenfrage der Identität

Wie viele Migranten ist auch er in der Identitätsfrage zwiegespalten. "Wenn mir jemand die Frage stellt, was ich bin, antworte ich meist mit der Gegenfrage, was mein Gegenüber meint, dass ich sei." Die meisten würden dann entweder Serbe, Bosnier oder Kroate sagen. "Wenn es mir dann fad wird, sage ich, ich bin Ex-Jugoslawe Schrägstrich Österreicher." Das Sich-als-Österreicher-Fühlen verstünden die meisten, die Selbstdefinition Ex-Jugoslawe verunsichere aber viele.

Dazu muss man wissen, dass das, was bei Goethe die Gretchenfrage nach der Religion war, bei den Ex-Jugoslawen die Frage nach der ethnischen Identität ist. "Viele verstehen das nicht, wie ich sagen kann, ich bin Ex-Jugoslawe. Für mich ist das aber so: Wenn meine Eltern über den Balkan sprechen, dann sprechen sie über ihre Zeit in Jugoslawien und wie schön das damals war. Sie liebten es damals, in Sarajevo zu leben. Deswegen bezeichnen sie sich auch als Jugoslawen. Das ist so, wie sie sich fühlen, das ist so, wie ich mich fühle. Ich verstehe, dass sich viele heute einer der Ethnien zugehörig fühlen, erwarte mir aber auch, dass sie verstehen, dass ich mich als Jugoslawe fühle."

In seinen Augen leben die Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien in einem doppelten Zwiespalt. "Einerseits sind wir zwiegespalten zwischen österreichischer Identität und der Identität mit dem alten Heimatland. Und andererseits sind wir Menschen aus Ex-Jugoslawien dann noch einmal in der Identität der ehemaligen Heimat zwiegespalten. Also irgendwie doppelt zwiegespalten."

Stresstraining zum Schluss

Heute neigt sich das Training dem Ende zu. Siniša beraumt ein Stresstraining an. Es wird eine Situation simuliert, in der einer der Schüler sich gegen drei andere zur Wehr setzen muss. "Es geht in so einer Situation nicht darum, jemanden k. o. zu schlagen, sondern mit meinen Schülern zu üben, wie sie sich in einer solchen Situation positionieren müssen, um da rauszukommen und, wenn nötig, weglaufen zu können."

Heute hören viele Personen auf die Worte des ehemaligen Flüchtlings und Schulabbrechers. Das sei aber normal, meint Siniša Maletić: "Wenn man das macht, was man liebt, dann ist man auch gut darin, und andere können davon profitieren." (Siniša Puktalović, 26.9.2016)