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Eine Moschee in Sarajevos Nebel.

Foto: REUTERS/Dado Ruvic

Der berühmteste bosnische Islamwissenschafter, Enes Karić, hat am Donnerstag in Sarajevo dazu aufgerufen, Modelle für einen Islam in säkularen Gesellschaften auszuarbeiten. "Den Muslimen muss beigebracht werden, dass die religiösen Prinzipien in modernen Gesellschaften nur eine moralische Gültigkeit als Stimme ihres Gewissens haben", sagte Karić bei einer von der österreichischen Botschaft organisierten Islamkonferenz. "Aber genau dieser Kontext eröffnet der Religion auch die Möglichkeit religiöser zu sein und viele Aktivitäten im Bereich der Gesundheit, der Medien, der Schulen und Universitäten zu entwickeln."

Säkulare Gesellschaften würden nichts Antireligiöses oder Antigöttliches bedeuten, sondern bloß Unparteilichkeit gegenüber der Religion und Offenheit des Staates gegenüber den Gläubigen und den Nichtgläubigen zeigen, solange diese sich den Regeln entsprechend ausdrücken. Karić plädierte für eine offene Diskussion: "Die Muslime heute sollten die pluralistische Sphäre nicht fürchten oder scheuen."

Plattform des Regierens

Er verwies darauf, dass sich die Islamischen Gesellschaften in der Geschichte stark verändert hätten. Theokratien, Emirate und Sultanate seien kollabiert. "Wir können den Islam deshalb nicht auf bestimmte Eigenschaften reduzieren." Dem traditionellen Islam sei der Säkularismus als definierte soziale Orientierung zwar nicht bekannt gewesen, doch vor hundert Jahren sei es auch unmöglich gewesen, den Säkularismus so zu diskutieren wie heute, weil dieser erst nach 1789 als ein Resultat der Französischen Revolution auftauchte.

Die Muslime hätten ihr Modernisierungsprojekt erst nach jenem der Europäer begonnen, so Karić. "In der Moderne wurde der Islam, der etwa im Osmanischen Reich eine Plattform des Regierens war, vom Nationalismus oder Sozialismus abgelöst. Nach dem 19. Jahrhundert tauchten aber Autoren auf, die den Islam auch als Glaubens- und Moralsystem beschrieben."

So habe der ägyptische Rechtsgelehrte Muhammad 'Abduh (1849–1905) den Islam als Glaube und nicht für ein politisches System empfohlen und darauf verwiesen, dass der Koran das Wort "Staat" nicht einmal enthält. 'Abduh besuchte dreimal das britische Parlament. Ein anderer ägyptischer Rechtsgelehrter, 'Alī 'Abd ar-Rāziq (1887–1966), stand ebenfalls auf dem Standpunkt, dass der Islam eine Religion und kein Regierungssystem sei. Gott würde Individuen und nicht Staaten zur Verantwortung ziehen, so sein Argument.

Säkulare Bürger

Der ägyptische Schriftsteller Tāhā Husain (1889–1973) unterstützte ebenfalls die Idee eines säkularen Staats, in der die Religionen frei sind. Karić: "Viele muslimische Theoretiker haben ein positives Bild über pluralistische und säkulare Gesellschaften im Westen. Denn Säkularismus und Pluralismus schaffen Platz für eine freie Entwicklung der Menschen als Bürger. Dabei müssen diese säkularen Bürger nicht ihre Religion vergessen, solange sie als säkulare Bürger handeln."

Der ägyptische Autor Fahmi Huwaidi sehe heute Christen etwa nicht als "dhimmis" – also schützenswerte Minderheit –, sondern als Bürger. Karić verwies auch auf Jürgen Habermas, der über die Notwendigkeit geschrieben hat, religiöse Inhalte in eine verständliche Sprache zu übersetzen. "Das passiert jetzt", so Karić. "In den westlichen liberalen Demokratien werden tausende Bücher über den Islam als Glaubenskultur und Zivilisation veröffentlicht. Englisch ist eine führende Sprache des Islam im Westen." Der Islamwissenschafter rief dazu auf, dass die Muslime "zum pluralistischen Diskurs im Westen beitragen und gemeinsame Ziele als Bürger finden" sollen, "die Glaubensziele können sie in diesem Kontext realisieren".

"Keine gottlosen Gesellschaften"

Die muslimischen Gemeinschaften in Europa müssten sich bewusst sein, dass das Konzept des Säkularismus nicht Atheismus beinhaltet. "Pluralistische Gesellschaften bedeuten nicht gottlose Gesellschaften", so Karić. Glauben und Religion seien in diesen Gesellschaften nicht unter Beobachtung und sie seien nicht an den Rand gedrängt. "Zu glauben oder nicht zu glauben ist in dem System kein Vorteil und kein Nachteil, wenn es darum geht, Zugang zu Machtpositionen zu bekommen."

Karić verwies auch auf den pakistanischen Philosophen Fazlur Rahman (1919–1988), der meinte, dass der Islam kein Privileg sei, sondern eine moralische Verpflichtung. "Es ist sehr wichtig die Muslime im Westen, in der EU und auf dem Balkan, daran zu erinnern und sie dazu zu bringen, dass sie in den pluralistischen Gesellschaften und dem säkularen System eine Herberge zu finden. "Der Islam hat in pluralistischen Gesellschaften eine Chance. Er wird hier religiöser, weil er stärker als Glaubens- und Moralsystem interpretiert wird."

Karić meinte zudem, dass die muslimischen Gemeinschaften dank der zivilen Freiheiten "sichtbar und transparent" sein könnten. Dies würden die Gesetze ermöglichen. "Die Leute nehmen an diesen Gesellschaften teil – abgesehen von ihrem Glauben – und sie werden nicht diskriminiert." Die religiösen Gemeinschaften könnten viele Teile des Systems kritisieren, etwa das Trinken von Alkohol, die Abtreibung, die Drogen und Scheidungen. "Aber nachdem sie in pluralistischen Gemeinschaften leben, müssen sie Verantwortung und Respekt im öffentlichen Bereich und zu den Gesetzen zeigen."

"Scharia ist kein Gesetz"

Auch der ausgewiesene Experte für Islamisches Recht der Universität Sarajevo, Fikret Karčić betonte, wie wichtiges es sei, das staatliche Gesetz zu respektieren. Die Scharia sei zudem ein "normatives System" und kein Gesetz. Normative Systeme würden sich auf Individuen und nicht auf Staaten beziehen. "Der Kanun, also das säkulare Recht im Islam ist auf den Staat bezogen aber nicht die Scharia", so Karčić.

In der Islamischen Geschichte habe es zwei Modelle für die Anwendung der Scharia gegeben. In Systemen, wo es eine muslimische Mehrheit und eine Einheit von Staat und Religion gab, wie etwa im Osmanischen Reich, wurde die Scharia über staatliche Gerichte ausgeübt. Wenn Muslime in der Minderheit waren, dann wurden sie so wie andere Minderheiten in muslimischen Mehrheitsgesellschaften als "dhimmis" gesehen. "Diese Konzepte sind aber nicht für moderne säkulare Staaten anwendbar", stellte Karčić fest.

Für eine mögliche Anwendbarkeit der Scharia innerhalb der säkularen Gesellschaften zog er das Beispiel der Geschichte der Juden in der Diaspora und in Palästina heran. "Die Situation der Muslime in Europe ist nicht einzigartig. Aber anders als die Juden sollten sie gleich die volle Bürgerschaft anstreben und keine rechtliche Autonomie", so Karčić. Die Juden hätten in Europa früh das staatliche Recht anerkannt. Das spezielle jüdische Recht – die Halacha – korrespondiere in diesem Kontext mit dem islamischen Fiqh, also den religiösen Normen.

Die Muslime müssten zwei Prinzipien akzeptieren, so Karčić: Erstens die Loyalität zum Staatlichen Gesetz. Eine Basis dafür könne man in der Islamischen Geschichte finden. Das Konzept des "aqd" wäre etwa vergleichbar mit dem Sozialvertrag, der in westlichen Gesellschaften die Basis für den Schutz des Staates für die Bürger, darstellt. Zweitens müsse man das Islamische Gesetz in einer speziellen Weise weiter entwickeln.

"Eigener Mufti"

Karčić erwähnte etwa eine Fatwa eines marokkanischen Mufti für einen spanischen Muslim nach der Reconquista. Dieser habe dem Muslim einfach geraten, sein "eigener Mufti" zu sein. Karčić meint es würde nichts dagegen sprechen, wenn heute nach britischem Beispiel, ein Islamischer Rat sich um geringfügige Angelegenheiten – wie etwa Scheidungen nach Islamischem Recht – kümmern würde. Er wies auch darauf hin, dass die Juden eine ähnliche Institution hätten – das Rabbinatsgericht Beth Din. Die Islamwissenschafterin aus Münster, Dina El Omari hielt dies allerdings für keine gute Idee, weil sie Bedenken hat, dass der Eindruck entstehen könne, es gäbe so etwas wie ein "Göttliches Gesetz". Sie meinte, dass die Gesetze in säkularen Staaten für alle gleich sein müssten.

Auch die heute in Europa vielbeachtete Frage, wie sehr der Islam als Spiritualität und andererseits als Rechtssprechung und politisches System verstanden werden könne, wurde debattiert. Karčić führte aus, dass es weit mehr Literatur über Islamisches Recht als über Islamische Theologie gäbe, was den Wiener Islamwissenschaftler Khalid El Abdaoui dazu veranlasste, zu argumentieren, dass man heute eine "Balance zwischen der Theologie und der Rechtssprechung" brauche. "Der Islam braucht mehr theologischen Anspruch", meinte er.

El Abdaoui sagte zudem, dass im europäischen Kontext die Bildungsfrage entscheidend sei. Zwei verschiedene Philosophien, die Ausbildung an der Medressa und jene an der Universität, stünden sich gegenüber. Der kanonische Text müsse in seiner ganzen Komplexität in Zukunft an den Europäischen Universitäten unterrichtet werden und die defensive Haltung gegenüber den anderen Konfessionen, so wie der exklusive Wahrheitsanspruch, aufgegeben werden. Der Islam könne in diesem Sinn zur sozialen und kulturellen Integration beitragen. El Abdaoui wies auch darauf hin, dass im Jahr 2030 in zehn EU-Staaten der Anteil der Muslime über zehn Prozent betragen werde. Das österreichische Modell wies er als einzigartig im europäischen Vergleich aus.

Kein Vertrag

In Bosnien-Herzegowina gibt es noch keinen Vertrag zwischen dem Staat und der Islamischen Glaubensgemeinschaft. Dževada Šuško, Direktorin des Instituts für die Tradition Islams der Bosniaken in Sarajevo, plädierte dafür, dass als Vorlage für einen Vertrag zwischen dem Staat und der Islamischen Glaubensgemeinschaft der Vertrag mit dem Vatikan genommen werden sollte. Seit 2008 wird bereits verhandelt. Bislang konnte man sich aber vor allem in Sachen Arbeitsrecht nicht einigen.

Die Islamische Glaubensgemeinschaft fordert, dass gläubige Muslime das Recht bekommen sollen, während der Pilgerfahrt nach Mekka, dem Hadsch, Urlaub nehmen zu können, am Freitag zu Mittag eine Stunde zum obligatorischen Freitagsgebet gehen zu können, während des Fastenbrechens eine Pause nehmen zu können, auf dem Arbeitsplatz eine Gebetsmöglichkeit zur Verfügung zu bekommen und am Arbeitsplatz und an den Schulen nach den islamischen Speisevorschriften (Halal) essen zu können. Das Ministerium wies die Forderungen bislang zurück.

Šuško betonte, dass es sich beim Freitagsgebet um eine unbezahlte Stunde handeln solle und keine Kosten für die Arbeitgeber entstehen würde. Die Frage, inwiefern Arbeitgeber auf Muslime eingehen sollen, beschäftigt sämtliche Gesellschaften auf dem Balkan. Die Forderungen von Muslimen nach Gebetszeiten und Gebetsmöglichkeiten werden auch in säkulareren Gesellschaft als der bosnischen, etwa im Kosovo oder in Albanien, stärker und bereiten vielen Menschen Sorgen. Insbesondere in Bosnien-Herzegowina fürchten säkulare Bürger den Einfluss der Religiösen. In Arbeitsumfeldern, wo die größte bosniakische Partei, die SDA, viel Einfluss hat, wurden Muslimen schon sehr viele Rechte zugestanden. Säkulare Bosnier fühlen sich aber dadurch gestört, wenn etwa öffentliche Einrichtungen, wie Ämter oder Spitäler, den Religiösen und ihren Bedürfnissen so viel Platz einräumen.

Ziel des Staatsvertrags ist es auch, dass die Islamische Glaubensgemeinschaft in Zukunft vom Staat konsultiert werden kann, welcher Islamische Verein eingetragen werden sollte. "Damit soll Prävention gegen extremistische Deutungen des Islam geschaffen werden", so Šuško. Der traditionelle Islam in Bosnien-Herzegowina ist jener nach hanafitischem Ritus. Wenn man künftig die Möglichkeit habe, Vereine zuzulassen oder nicht, würde man nur mehr Vereine mit hanafitischem Ritus akzeptieren. Genau das ist aber ein heikler Punkt, denn die Islamische Glaubensgemeinschaft würde damit eine Art Monopolstellung bekommen. So würden nicht nur die umstrittenen Salafisten-Gruppen, sondern auch Sufi-Orden, die nicht unter den hanafitischen Ritus fallen, nicht mehr zugelassen werden.

Die Frage der Zulassung von Islamischen Ausrichtungen wird zeitgleich mit der Debatte um die Para-Dschemats geführt. Das sind Islamische Gemeinschaften, die außerhalb der etablierten Islamischen Glaubensgemeinschaft stehen und oft extremistisch sind und einen Islam leben wollen, wie er im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel existiert hat. Die Islamische Glaubensgemeinschaft versuchte in den vergangenen Monaten die 64 zu integrieren. Dies bedeutet auch, dass sie jetzt von etablierten Imamen betreut werden. Die Islamische Glaubensgemeinschaft verweist darauf, dass es aber ab nun, Aufgabe des Staates wäre, die Extremisten in den Griff zu bekommen.

"Geschlechtsspezifische Kleidungsformen"

Ein weiteres heißes Thema ist in Bosnien-Herzegowina sind geschlechtsspezifische Kleidungsformen in einem religiösen Kontext. Vor einigen Monaten urteilte der bosnische Justizrat, dass in der Justiz tätige Menschen keine religiösen Symbole tragen dürften – damit wurde auch das Tragen des Islamischen Kopftuchs, also des Hiqab für Muslima. untersagt. Eine Fatwa der Muftis in Bosnien-Herzegowina beurteilte danach jedoch das Tragen des Hiqabs als verpflichtende religiöse Praxis für Muslima. Insbesondere in Bosnien-Herzegowina ist die Frage heikel, denn sie berührt nicht nur religiöse Themen, sondern auch Gruppenidentitäten. Denn in dem völkischen Denken, wie es seit dem aggressiven Nationalismus in den 1990er Jahren, etabliert wurde, werden die Muslime als Volksgruppe der Bosniaken definiert, die Orthodoxen als Serben und die Katholiken als Kroaten.

Wenn nun etwa eine orthodoxe Gläubige in einem Gericht auf eine Richterin mit Kopftuch treffen würde, würde sie diese auch als Angehörige einer anderen Volksgruppe betrachten. Und dies würde zumindest die Vorstellung von Neutralität behindern. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina wurde zwar bereits 1995 beendet, doch durch das staatliche System, das auf Trennung der Volksgruppen basiert, wurden die Linien zwischen den Identitäten noch stärker gezogen. Streng religiöse Muslima, die auf dem Kopftuch beharren, sehen wiederum in dem Verbot für religiöse Symbole in der Justiz eine Diskriminierung.

"Wir haben noch das Erbe aus der kommunistischen Epoche, wo Religion und religiöse Symbole im öffentlichen Raum nicht erwünscht waren", so Šuško zum STANDARD. Man sei gerade in einer Phase, wo die Religion ihren Platz wieder finden müsse. Die Islamische Glaubensgemeinschaft trete für ein säkulares Bosnien-Herzegowina ein. "Aber dennoch befürworten wir eine Kooperation mit den Glaubensgemeinschaften, weil die religiöse Identität hier für die Identität an sich eine große Rolle spielt." (Adelheid Wölfl, 30.9.2016)