Bild nicht mehr verfügbar.

111 bemalte Zellentüren im Hof der Haftanstalt Carandiro erinnerten im September 2002 an die 111 durch Wärter erschossenen Häftlinge. Wenig später wurde das gesamte Gebäude gesprengt.

Foto: REUTERS/PAULO WHITAKER

Hunderte halbnackte Männer liegen auf dem Gefängnishof, das Gesicht in den staubigen Boden gedrückt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Dazwischen patrouillieren schwerbewaffnete Polizisten mit Pferden. Über ihnen an der Betonwand ragt ein abgebröckeltes Bildnis der Jungfrau Maria. In einem Nebentrakt sind offene Holzkisten mit insgesamt 111 Leichen aufgebahrt. Es sind Szenen aus dem 2003 von Héctor Babenco gedrehten Film Carandiru, der jedoch die noch viel brutalere Realität nur ansatzweise einfangen kann.

Der 2. Oktober 1992 hat sich in das Gedächtnis vieler Brasilianer gebrannt. Im damals größten und mit 8000 Insassen völlig überfülltem Gefängnis in Carandiru, einem Stadtteil in São Paulo, rebellierten die Insassen gegen die schlechten Haftbedingungen. Sie verbrannten Matratzen und Holzbänke, riesige Rauchwolken stiegen aus den Zellenblöcken auf. Erst als die Häftlinge bereits weiße Fahnen gehisst und ihre Messer auf den Hof geworfen hatten, erteilte der kommandierende Polizeioberst Uribatan Guimarães den Schießbefehl an mehr als 300 seiner Militärpolizisten. Sie töteten 111 Häftlinge, 87 weitere wurden verletzt. Bei der Polizei gab es 22 Verwundete.

Blick hinter Gefängnismauern

Das Blutbad sorgt für einen Aufschrei und lenkt erstmals den Blick der Öffentlichkeit hinter die Gefängnismauern. Carandiru wird zum Synonym für Polizeigewalt und eine willfährige Justiz. Coronel Guimarães wurde zu 632 Jahren Haft verurteilt, musste aber nie ins Gefängnis und wurde 2006 freigesprochen.

Erst 2013 und 2014 wurden in vier getrennten Verfahren insgesamt 74 Polizisten wegen mehrfachen Mordes zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt – insgesamt mehr als 21.000 Jahre Gefängnis. Nach einem vieldiskutierten Verfahren wurde damit die bislang höchste Strafe überhaupt in Brasilien verhängt. Jetzt hat ein Gericht in São Paulo überraschend einem Antrag der Verteidigung stattgegeben und die Strafe aufgehoben. Der zuständige Richter Ivan Sartori begründete das Urteil mit einer "legitimen Situation der Verteidigung der Beschuldigten". Eine weitere Instanz muss über einen endgültigen Freispruch oder eine Aufhebung der Strafe und einen neuen Prozess entscheiden. 24 Jahre nach dem Massaker von Carandiru steht die juristische Aufarbeitung wieder ganz am Anfang.

Das Urteil sorgte landesweit für für Unglauben, Entsetzen, aber auch für Jubel bei der Polizei. Brasiliens größte Zeitung Folha de São Paulo sprach von einer "beschämenden Entscheidung". Ariel de Castro Alves, Anwalt im Menschenrechtsrat von São Paulo (Condepe), sagt: "Damit wird mit dem falschen Argument von 'legitimer Verteidigung' Polizeigewalt toleriert und sogar noch gefördert." Der bekannte Menschenrechtsanwalt Marcos Fuchs hat den langwierigen Prozess in all seinen Etappen begleitet. "Es war ein feiges, menschenverachtendes und grausames Massaker", sagt er. Die Polizei habe ohne Gegenwehr geschossen. "Das wurde im Prozess bewiesen."

Gefängnisse weiter überfüllt

Viel hat sich seit Carandiru in brasilianischen Haftanstalten nicht verbessert. Gangstersyndikate beherrschen den Gefängnisalltag und können ihren "Geschäften" ungehindert nachgehen. Perfiderweise galt der Aufstand in Carandiru als Geburtsstunde des Kartells PCC (Primeiro Comando da Capital), das noch heute im Bundesstaat São Paulo den Drogenhandel kontrolliert, Kopfgeld eintreibt und zahlreiche Politiker auf seiner Gehaltsliste hat.

Auch sind die Gefängnisse weiterhin überfüllt. "Insgesamt sind mehr als 550.000 Menschen in Haft – das sind vier Mal mehr als noch vor zehn Jahren", sagt Brasiliens Amnesty-Chef Atila Roque. Damit ist Brasilien nach Kambodscha und El Salvador das Land mit den meisten Häftlingen proportional zur Bevölkerung. Laut Justizministerium ist eine bessere Aufklärungsarbeit der Polizei der Grund dafür. Über diese Argumentation kann Roque nur den Kopf schütteln. Die Aufklärungsquote sei weiterhin miserabel, sagt er. Das Problem sei, Brasiliens Rechtssystem sehe Haft als einzige Strafe vor. Es gibt zum Beispiel keine gemeinnützige Arbeit, für die aber nach Expertenmeinung 70 bis 80 Prozent der Inhaftierten infrage kämen.

Die Politik hat wie so oft mit der ihr eigenen Strategie auf das Blutbad von Carandiru reagiert. 2002 wurde der Gefängniskomplex gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht. Nichts sollte mehr an die "Hölle auf Erden" erinnern. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 1.10.2016)