Der für österreichische Dimensionen bisher beispiellose Grazer Amoklenkerprozess hat zwei sehr ernste, grundsätzliche Fragen aufgeworfen.

Eine wichtige, kritische Anmerkung formulierte der renommierte Gerichtspsychiater Reinhard Haller. Dieser Prozess, meinte er, hätte nicht in Graz abgewickelt werden dürfen, weil die Bewohner hier nach wie vor traumatisiert seien durch diese Amokfahrt, bei der drei Menschen, darunter ein kleiner Bub, gestorben und 108 Passanten zum Teil lebensgefährlich verletzt worden waren. Es habe dadurch keine faire Stimmung gegeben.

Natürlich ist ein Prozess nicht dazu da, kollektive Traumatherapie zu betreiben, aber hätte eine Verlagerung nach Innsbruck, Wien oder Linz wirklich ein anderes Ergebnis gebracht? Vor Gericht wären dieselben Zeugen erschienen und hätten, noch immer erschüttert vom Erlebten, von ihren Verletzungen, ihren schweren psychischen Verstörungen erzählt. Die Gutachter hätten dieselben Gutachten vorgelegt.

Aus der Eindeutigkeit der Entscheidung der Grazer Geschworenen für eine Zurechnungsfähigkeit des Amoklenkers ist nicht herauszulesen, dass das Urteil "lebenslänglich" nur deshalb so klar war, weil die Geschworenen aus dem Grazer Raum kamen. Aus dem Prozessverlauf war zu erkennen, dass sich das Verfahren in Richtung Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten dreht. Nicht weil die Stimmung in Graz gegen den Beschuldigten aufgeheizt gewesen wäre, sondern weil die Gesamtschau aus allen Aussagen der Zeugen, der Gutachter und des Verhaltens Alen R.s letztlich diese Wendung ergab.

Für die Gerichtspsychiater Peter Hofmann und Jürgen Müller war der Prozess natürlich eine "Niederlage". Die Psychologin Anita Raiger hat die Geschworenen mit ihrem Vortrag am letzten Verhandlungstag offensichtlich beeindruckt. Dass sie sich mit ihrer – auch von dem Gutachter Manfred Walzl vertretenen – These, dass Alen R. die Amokfahrt bewusst geplant hatte, durchgesetzt hat, lag aber allein am Unvermögen der Psychiater, ihre Version der Unzurechnungsfähigkeit des Amoklenkers plausibel genug vorzutragen. Die Psychiater hatten bloß gemeint, er leide an "paranoider Schizophrenie", was ihn exkulpiere. Das war den Geschworenen einfach zu wenig. Dass Psychiaterkollege Haller der Psychologin jetzt die Kompetenz abspricht, lässt ein wenig auf gekränkte (männliche) Eitelkeit schließen. Hier kommt auch die Haltung der älteren Psychiatergeneration durch, die die Psychologie als minderwertige Wissenschaft nicht wirklich ernst nimmt.

Die unterschiedlichen Gutachtermeinungen haben aber eine weitere Frage aufgeworfen: Sind Geschworene als Laien überhaupt in der Lage, derart divergierende und komplizierte (Medizin-)Gutachten einzuschätzen? Natürlich sind sie das. Die Geschworenen entscheiden auf Grundlage der Beweismittel, die ihnen vorgelegt werden. Ein Gutachten ist ein Beweismittel, und jenes der Psychologin, wonach Alen R. sein kaputtes Leben "der Gesellschaft" anlastete und sich mit einer Amokfahrt rächte, war eben für die Laienrichter am plausibelsten.

Der gut geführte Prozess hatte nur eine völlig unnötige Schwachstelle: Einige Details der polizeilichen Ermittlungen wie die gelöschten Computer und die Internetaktivitäten Alen R.s wurden nicht lückenlos aufgeklärt – was Verschwörungstheoretikern wieder Nahrung geben wird. (Walter Müller, 30.9.2016)