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An der Waffe ausgebildet und ohne Job. Viele der 26.000 Bürgerwehr-Mitglieder, die an der Vertreibung von Boko Haram beteiligt waren, vereinen diese explosive Mischung auf sich.

Foto: Reuters / Akintunde Akinleye

Abuja/Wien – Sie sind dort, wo der Staat bisher nur viel zu selten vorbeigeschaut hat – und sie erfüllen seine Aufgaben. Wenn im Norden Nigerias Märkte und Schulen vor Angriffen gesichert werden sollen, dann gehören die lax unformierten jungen Männer, die ihren Kopf dafür hinhalten, nur in den seltensten Fällen der Armee an. Auch wenn Diebe gefasst oder Kindesweglegungen geklärt werden müssen, ist es meist nicht die Polizei, die den Fall löst: Stattdessen sind es die Mitglieder der lokalen Bürgerwehren, die für Recht und Ordnung sorgen.

Vor allem aber haben die unterfinanzierten und schlecht bewaffneten jungen Männer der "Civilian Joint Task Force" (CJTF) in den vergangenen Monaten etwas geschafft, woran die Armee lange Jahre gescheitert ist: Die rund 26.000 Kämpfer haben die Terrorgruppe Boko Haram nicht nur aus den großen Städten Nordnigerias, sondern auch aus vielen kleineren Dörfern vertrieben. Und gerade deshalb sind der Regierung in Abuja die Bürgerwehren zunehmend unheimlich.

In der Bevölkerung verankert

Dabei lassen sich Teile des Erfolges recht leicht erklären: Viele Soldaten der Armee stammen nicht aus den betroffenen Regionen. Sie weichen daher der Konfrontation mit den todesbereiten Islamisten wesentlich häufiger aus, als die Mitglieder der CJTF, die im Falle einer Niederlage einen Teil ihrer eigenen Heimat verlieren. Während die Kämpfer der Armee mit dem Gelände und seinen Bewohnern kaum vertraut sind, kennen die Mitglieder der CJTF das Gebiet und die Sitten. Vor allem aber genießen sie – im krassen Gegensatz zur Armee – das Vertrauen der Bevölkerung: Viele haben ihre Familien, manche auch ihre Berufe verlassen, um sich oft unbezahlt der Miliz anzuschließen.

Und nicht zuletzt sind die allermeisten – anders als viele Soldaten – selbst Muslime, die ihre Heimat vor der radikalen Islam-Interpretation der Boko Haram schützen wollen.

Ausbeutung und Missbrauch

Doch auch für das Misstrauen der Regierung gibt es Anlass: Da ist zum einen von Misshandlungen und sexueller Ausbeutung von Frauen und Kindern die Rede – ein Vorwurf, den Menschenrechtsgruppen freilich auch gegen die reguläre Armee erheben. Immer wieder gibt es aber auch Berichte, wonach die Kämpfer mit Gewalt Ressourcen an sich ziehen, die für andere bestimmt sind – nicht zuletzt Hilfslieferungen –, oder Schutzgelder erpressen. Zudem stellt sich die Frage nach der Zusammensetzung der teils nur schlecht ausgebildeten und keiner Befehlskette gehorchenden Gruppen. Dass nicht alle Kämpfer über 18 Jahre alt sind, ist in Sicherheitskreisen eine akzeptierte Tatsache.

Und es gibt aus Sicht Abujas noch einen weiteren Grund zur Sorge: Schon seit geraumer Zeit fragen sich dort einige Strategen, ob sich Bürgerwehren, die sich so gut regional koordinieren können, überhaupt noch lange einem ethnisch und religiös gemischten Gesamtstaat zugehörig fühlen werden. Ein möglicher Anstieg des gewaltbereiten Separatismus bereitet wohl auch Präsident Muhammadu Buhari Sorgen. Er stammt selbst aus dem wirtschaftlich lange massiv vernachlässigten Nordteil des Landes.

Zudem ist da eine üble Erinnerung: Auch Boko Haram selbst formte sich einst aus einer Mischung aus lokalem Stolz, Ärger über Vernachlässigung und einfach verfügbaren Waffen zur Terrorarmee. Entsprechend hektisch sind nun auch die Versuche, Mitglieder der CJTF in die Armee oder in die zivile Berufswelt zu integrieren: Mehrere Hundert wurden in den vergangenen Wochen ins Militär übernommen, für andere will die Regierung Jobs bei Notfallorganisationen oder Ausbildung in der Landwirtschaft finden. Es scheint aber ausgeschlossen, dass das für alle 26.000 gelingt. (Manuel Escher, 4.10.2016)