Wird das Gefühl der ständigen Alarmbereitschaft unkontrollierbar, kann es krankmachen.

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Rudi, ein kräftiger Mann, Führungskraft in einem großen Konzern, sitzt an der Bar und erzählt, wie es war, als er es mit der Angst zu tun bekam: Er habe sich gefühlt, als würde er ununterbrochen in einem Hamsterrad laufen. Schon in seinem letzten Betrieb wurde er heftig gemobbt, hat erst einen Hörsturz erlitten und dann einen zweiten. Seine Söhne haben sich immer weiter von ihm entfernt, ebenso seine Frau – die ihm eines Abends ein Ultimatum stellte: Entweder es ändert sich etwas oder sie verlässt ihn.

So wie Rudi geht es vielen. "Jeder hat Ängste", sagt Bettina Stackelberg, Trainerin und Coach aus München, die Rudis Fall zu einem Buch über Angst im Job inspirierte. Bei einem Vortrag vor Berufstätigen in Wien machte Stackelberg den Praxistest: Sie bat, die Hand zu heben, wer schon einmal Angst hatte. Tatsächlich behielt kaum jemand die Hand unten.

Angst ist ein diffuses Gefühl. Sie überkommt einen meist unkontrolliert, bei Bewerbungsgesprächen, in Meetings, vor einer wichtigen Präsentation, macht hilflos, tut oft regelrecht weh. Man zittert, schwitzt und kann an nichts anderes denken als an den Auslöser der Angst.

Gesellschaft der Angst

Trainerin Stackelberg versucht, ihrem Publikum die Angst vor der Angst zu nehmen, indem sie ihnen ihre Funktion erklärt. Sie sagt, dass Angst in grauer Vorzeit die Menschen davor schützte, nicht von einem Säbelzahntiger gefressen zu werden, dass sie heute teilweise immer noch als Schutzmechanismus wirkt. "Angst lässt uns wachsam sein, genau hinsehen, abwägen", sagt Stackelberg, was vor dummen Entscheidungen bewahre.

Ein gewisses Maß an Angst setzt Energie frei. Der Grund: In riskanten – oder als riskant empfundenen – Situationen schütten die Nebennieren Adrenalin aus. Das Herz beginnt dann schneller zu schlagen und das Blut bindet mehr Sauerstoff. Mit dem richtigen Maß an Anspannung ist der Mensch also zu Spitzenleistungen fähig. Ganz nach dem Motto: Angst verleiht Flügel. Es ist allerdings wie alles eine Frage der Dosierung. Wird das Gefühl der ständigen Alarmbereitschaft unkontrollierbar, kann es eben krankmachen. Wissenschaftliche Experimente haben gezeigt, dass Angst im Mandelkern des Gehirns sitzt: Dort können Angsterfahrungen auch als eine Art Trauma gespeichert werden – und beim kleinsten Anlass Bedrohung melden.

Neben einem biologischen ist Angst aber auch ein gesellschaftliches Phänomen. Bedingt wird sie durch die Anforderungen der neuen Arbeitswelt. "Immer mehr Menschen leiden unter dem Gefühl, immer schneller laufen zu müssen", schreibt dazu der Wiener Psychologe und Psychotherapeut Rainer Gross in seinem aktuellen Buch Angst bei der Arbeit – Angst um die Arbeit. Für diese Beschleunigung verantwortlich macht der Experte einerseits den technischen Fortschritt: Durch Smartphones, Tablets und Co sind E-Mails jederzeit abrufbar, verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben.

Neubewertung von Arbeit

Schuld an der Angst sind aber auch Globalisierung und Digitalisierung. Sie führen dazu, dass Karrieren immer schlechter planbar, immer weniger vorhersehbar sind und die Anforderungen an Mitarbeiter steigen. Die gesellschaftlichen Veränderungen, so Gross, haben dazu geführt, "dass man fast schon eine sozioökonomische 'Landkarte' verschiedener Ängste zeichnen könnte". Während noch vor 30 Jahren die Angst am und um den Arbeitsplatz ein Minderheitenproblem war, ist sie heute also mehrheitsfähig geworden.

Die Gründe für die Angst unterscheiden sich jedoch nach sozioökonomischem Status, schreibt Gross: Die Jungen fürchten sich vor dem Prekariat, die 45-Jährigen davor, überflüssig zu werden. Die Unterschicht hat Angst davor, selbst den schlecht bezahlten Job zu verlieren und keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Die Mittelklasse fürchtet sozialen Abstieg. Und Topmanager fürchten zu versagen.

Zentrale Bedingung für eine "Entängstigung in Arbeitsverhältnissen" sei daher eine Neubewertung der Arbeit. "Solange Arbeit für fast alle von uns so überragend wichtig für Selbstwert und Identität bleibt, solange wird dies auch im Negativen durchschlagen", so Gross. Es gelte nicht nur, die Belastungen der neuen Arbeitswelt ernst zu nehmen, es brauche auch einen Mentalitätswandel. "Was wäre, wenn nicht mehr nur die Arbeit im Zentrum unseres Lebens stünde?", fragt der Experte. Die Angst, der "Feind unseres guten Lebens", sei aber nicht nur im Außen zu suchen, sondern auch in der eigenen Seele. Deshalb müsse der Einzelne, die Einzelne die eigenen Ängste anerkennen – und mitteilen. Man bemerke dadurch, dass man damit nicht allein ist. "Die gefürchteten Konkurrenten sind oft ebenso unsicher wie wir", sagt Gross.

Strategie Achtsamkeit

Auch Stackelberg, die deutsche Trainerin, will die Angst "aus der Tabuzone herausholen". Sie appelliert, offen über sie zu reden, denn "die Angst will einem immer etwas sagen". Der gute Rat: einen Freund anrufen, sich mit einer Freundin austauschen. So hat es auch Manager Rudi getan: Er ging mit seinem besten Kumpel erst einmal vier Wochen zum Angeln nach Kanada, sprach dabei viel über seine Gedanken und Sorgen. "So kann Angst ihre Aufgabe erfüllen, ihre Lektion erteilen und danach gehen." Ganz nach Marie Curie, die sagte: "Was man zu verstehen gelernt hat, fürchtet man nicht mehr."

Außerdem rät Stackelberg zu Gelassenheit. "Nehmen wir gelassen Dinge hin, die wir nicht ändern können." Damit begegne man auch mutig den eigenen Ängsten und spare Kraft. Diese Gelassenheit, sagt wiederum Psychotherapeut Gross, "ist leider nicht beliebig herstellbar. Allerdings können wir ein bisschen nachhelfen, indem wir Bedingungen für solche Momente der Ruhe schaffen." Anstatt sofort zu handeln, etwa abwarten, akzeptieren, dass man noch nicht ganz genau weiß, wohin es geht.

Gross rät zudem, stärker auch auf flüchtige Empfindungen und Gefühle zu horchen. Lernen könne man das durch Achtsamkeitstraining. Entwickelt vom US-amerikanischen Biologen Jon Kabat-Zinn, erhöht es die Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt. "Solche Momente und Augenblicke erleben wir im Urlaub, zum Beispiel beim Anblick eines grandiosen Landschaftspanoramas, aber auch in der Umarmung mit Geliebten denken wir weder an Vergangenheit noch an Zukunft. Achtsamkeit will nichts anderes, als diese Fähigkeit auch für den Alltag nutzbar zu machen." Dort reduziert sie Stress und hilft, Sorgen und Ängste distanzierter zu betrachten.

Krisensicherer Kern

Wenn eigene Anstrengungen nicht mehr ausreichen, sollte man sich die Hilfe eines Therapeuten holen, sagt Gross. Dieser unterstützt im Idealfall beim Aufbau einer stabilen Persönlichkeit. Dabei, eigene Stärken zu erkennen, sich bewusst zu werden, dass es da etwas gibt, das hundertprozentig krisensicher ist, sagt Stackelberg. "Etwas, dem kein Jobverlust, kein Auftragseinbruch, keine Scheidung, kein Umzug, keine Angst und kein Zweifel etwas anhaben kann. Etwas, das immer da war, da ist und bleiben wird." (Lisa Breit, 14.11.2016)