Die Señora Gerta Stern mit ihrer Biografin Anne Siegel in Panama.

Foto: Anne Siegel

Anne Siegel, "Señora Gerta. Wie eine Jüdin aus Wien auf der Flucht nach Panama die Nazis austrickste". € 18,99 / 224 Seiten. Europa- Verlag, 2016

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Manchmal ist es ein falscher Weg, der auf den richtigen führt. Manchmal ein Zufall, der Leben rettet. In Zeiten, die dramatisch und gefährlich sind, können der falsche Weg und der Zufall die letzte Rettung sein. Gerta Stern hat das erlebt, am eigenen Körper. Wäre sie an diesem Tag Ende November 1938 mitten in Hamburg nicht in den falschen Hauseingang abgebogen und wäre ihr im Foyer nicht zufällig dieser Mann über den Weg gelaufen, den sie seitdem "Herr Otto" nennt – dann könnte sie wahrscheinlich ihre Geschichte gar nicht mehr erzählen. Dann wäre sie wahrscheinlich ein Opfer der Nazi-Barbarei geworden. So wie Millionen andere Juden auch.

Diese Geschichte ist lang, denn sie beginnt vor 101 Jahren in Wien. Hier wird Gerta Stern als Gerta Lagodzinsky 1915 in eine mittelständische Familie geboren. Dass sie offiziell Jüdin ist, spielt keine Rolle. "Erst Hitler hat mich zur Jüdin gemacht", sagt die alte Dame heute rückblickend ihrer Biografin. Die Journalistin Anne Siegel hat sich mit Gerta Stern getroffen, ihr zugehört und ihre Geschichte aufgeschrieben. Eine erstaunliche Geschichte, die seit Jahrzehnten in Panama-Stadt spielt, also weit weg von Wien, Österreich und Europa. Sie hat daraus ein Buch gemacht, in dem es um vieles geht: Wiener Lokalkolorit, das grausame Schicksal der Juden, Flucht, Neuanfang in der Fremde. Glaube, Hoffnung, Mut. Und Chuzpe.

Zunächst scheint das Leben von Greta in Wien gut anzugehen. Das muntere, hübsche Mädchen entdeckt früh ihr Herz für die Schauspielerei, wird bei einem Talentwettbewerb entdeckt und avanciert zum Kinderstar auf den Bühnen Wiens. Das Künstlerische scheint in der Familie zu liegen – ihr Onkel Sigfried Translateur macht sich einen Namen als Musiker. Er komponiert die Wiener Praterliebe, die später im raueren Berlin als "Sportpalasthymne" bekannt wird und den Onkel reich und berühmt macht. Greta liebt den Applaus, die Männer laufen ihr nach, repräsentiert sie doch schon als Teenager den neuen, selbstbewussten Frauentyp europäischer Metropolen der Zwanziger- und Dreißigerjahre.

Dann fällt ein Schatten auf ihr Leben. Im März 1938 kommt es zum "Anschluss" Österreichs an Nazideutschland. In Wien hatten die Nazis zuvor neidisch nach Norden geblickt, wo Hitler es den verhassten Juden endlich so richtig zeigte. Nun können auch sie losschlagen, und sie tun das noch schneller, noch brutaler als im "Altreich".

Mitten in diesem beginnenden Grauen heiratet Gerta Munio Stern, einen umschwärmten Fußballspieler. Dem jungen Paar ist klar, dass es nicht in Österreich bleiben kann. Juden haben in "Großdeutschland" keine Zukunft. Die beiden hängen zwar wie die Älteren auch an ihrer Heimat, aber anders als diese sind sie so flexibel, sich eine neue zu suchen. Nur wo? Beide fassen den Plan, Munios Schwester nach Johannesburg zu folgen, wohin sie ausgewandert ist. Die bezahlt sogar die nötigen Visa. Allein, das Geld versickert. Um die Sache zu beschleunigen, fahren Gerta und Munio zu Verwandten nach Hamburg. Hier wollen sie die Papiere direkt im Konsulat abholen.

Aber auch in Hamburg kommen die Papiere nicht an. Das Paar rennt nun von Konsulat zu Konsulat – kein Land aber will Juden aufnehmen. In Hamburg erleben sie den Novemberpogrom, in dessen Folge Munio verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht wird.

Auf sich allein gestellt betritt Gerta auf der Jagd nach den lebensrettenden Visa ein falsches Gebäude, nicht das Konsulat, das sie eigentlich besuchen wollte. Es ist das Bürogebäude des Norddeutschen Lloyd. Und hier, am falschen Ort, trifft sie den richtigen Mann – ihren unbekannten Helfer, der ihr schließlich mit seinen Tipps und Verbindungen das Leben rettet. Ein Mann mit Nazi-Symbol am Revers und einem Herz für Juden, der sich "Herr Otto" nennt. Gerta bekommt Visa für Panama und zwei Plätze auf einem der restlos ausgebuchten Passagierschiffe in die Freiheit.

Mit viel Chuzpe gelingt es Gerta, ihren Mann aus dem KZ zu befreien. Sie erinnert sich an ihre schauspielerischen Fähigkeiten, nimmt all ihren Mut zusammen, begibt sich in die Hamburger Gestapo-Zentrale und redet ohne Unterlass im breitesten Wiener Dialekt auf den Gestapo-Chef ein. Der versteht kein Wort – und sichert ihr entnervt zu, Munio freizulassen. Es ist ihr erfolgreichster Auftritt als Schauspielerin, zugleich der mit Abstand wichtigste. Einige Tage später kann sich das junge Paar in die Arme nehmen. Kurz danach gelangen sie auf das Schiff. Am 11. Jänner 1939 erreichen sie das fremde Land, das von nun an ihre Heimat sein wird.

In Panama-Stadt führen beide ein erfolgreiches Leben – Munio als Juwelier, Gerta als Kosmetikerin für die Reichen und Schönen. Moses (Munio) stirbt 1991, Gerta hat ihn lange überlebt. Noch heute arbeitet die 101-Jährige in ihrem Beruf. Ans Aufhören denkt sie nicht. Die Biografin Anne Siegel ist spürbar beeindruckt von der Energie und der Lebenslust der alten Dame. Gerta Stern wird erst hier zur religiösen Jüdin, die jüdische und Wiener Traditionen bis heute hochhält. Und die doch nie den Grund vergisst, warum sie seit Jahrzehnten fern ihrer Wiener Heimat lebt. (Armin Fuhrer, 9.10.2016)