Alltag in einer Schule der ostukrainischen Stadt Marinka. Sandsäcke dienen dem Schutz vor Beschuss. Durch die Stadt verläuft die Front zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Rebellen.

Foto: Florian Bachmeier

Die Schulglocke läutet. Kinder laufen durch die Aula, lachen. Erst auf den zweiten Blick fallen die durchlöcherten Fenster auf. Ein Einschussloch an der Fassade. Schüler schleppen Sandsäcke in die Klassenräume, um sie vor den Fenstern aufzutürmen. Ein Soldat mustert streng die Szene. Der Krieg ist für die Schüler von Marinka zum Alltag geworden. Nur wenige Monate ist es her, dass die Schule im ukrainisch kontrollierten Gebiet neue Fenster bekommen hat, nachdem die alten unter dem Druck des Artilleriedonners zerborsten waren. Zuletzt, in der Nacht von 3. auf 4. Oktober, wurde die Schule wieder beschossen.

Kaum neu eingesetzt, sind die Fenster, deren blendend weiße Rahmen noch wie ein fremdes Implantat im grauen Ziegelbau stecken, schon wieder von Granatsplittern durchlöchert. Es ist traurige Ironie, dass ausgerechnet eine Schule in Marinka zu Schaden kam. Für die Zeit ab dem 1. September – dem ersten Schultag in der Ukraine – haben die Konfliktparteien eine Waffenpause vereinbart. Von einer Entspannung ist in Marinka derweil wenig zu spüren: Die vergangenen Nächte haben viele Bewohner wieder in ihren Bombenkellern verbracht. Am Wochenende hatte die Ukraine zudem einen vereinbarten Truppenabzug im 300 Kilometer entfernten Stanyzja Luhanska wegen Beschusses durch die prorussischen Separatisten gestoppt.

Heftig umkämpft

Marinka hat besonders unter dem Krieg in der Ostukraine zu leiden. Im Frühjahr 2014 von den Separatisten besetzt, kam die Kleinstadt im Sommer 2014 wieder unter ukrainische Kontrolle. Doch auch seither ist die Stadt heftig umkämpft. Dass die Front praktisch durch das Stadtgebiet verläuft und Marinka somit offiziell zur "grauen Zone" gehört, macht sie für Zivilisten zu einem gefährlichen Ort. Der erste Kriegswinter war der schlimmste, sagt die Schuldirektorin Ljudmilla Pantschenko. Seit die Gasleitung vor zwei Jahren getroffen wurde, ist die Stadt von der Gasversorgung abgeschnitten. Damals hätten die Kinder in den Klassenzimmern gefroren, seien in Overalls gepackt gewesen und hätten Schnee an den Schuhen gehabt, erinnert sich Pantschenko.

Inzwischen wurde das Heizsystem auf Kohle umgestellt, in Pantschenkos Büro rattert ein Elektroheizer. Aber schon kriecht wieder die Kälte durch die frisch durchlöcherten Scheiben. Solange in Marinka geschossen wird, ist an eine Reparatur der Gasleitung nicht zu denken. Die Frontlinie ist hier nur 1.500 Meter entfernt. Eine eigentümliche Mischung aus Ausnahmezustand und Normalität hängt über der Schule: Vor dem Eingang kleben Plakate zu Schulveranstaltungen neben den Warninfos zu Minen. Grüne Klebestreifen an den Gängen sollen den Schülern zeigen, wo sie bei Beschuss stehen sollen. Rote, wo nicht. Die Hälfte der knapp 10.000 Einwohner hat die Stadt bereits verlassen. Geblieben ist, wer hier ein Haus, eine Wohnung oder als einer der wenigen Arbeit hat, statt mit leeren Händen ins Ungewisse zu fliehen. Alle Fabriken in der Stadt Marinka sind geschlossen oder völlig zerstört. Viele der Bewohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die Metropole Donezk, früher die Lebensader der Region, heute die Separatistenhauptstadt, die direkt an Marinka grenzt, ist ferner denn je. An den Checkpoints reihen sich täglich hunderte Autos ein, manchmal wartet man tagelang auf die Überfahrt.

Nachtkrieg in der Ukraine

Vor dem Krieg haben in der Schule von Marinka 350 Kinder die Schulbank gedrückt. Heute sind es noch knapp 160, Lisa und Dascha sind zwei von ihnen. Die beiden 15-Jährigen packen gerade ihre Schulsachen. Die letzte Nacht hat Lisa wegen des Schusswechsels kein Auge zugetan. Seit zwei Jahren sitzt ihre Familie Abend für Abend im Dunkeln, um nicht zu einem Ziel der Scharfschützen zu werden. "Du legst dich am Abend schlafen und hast nur einen Gedanken", erzählt Lisa. "Werden sie heute wieder schießen?" Der Krieg in der Ukraine ist ein Nachtkrieg.

Während die Waffen tagsüber zumeist ruhen, brechen die Kämpfe mit Einbruch der Dunkelheit los, wenn die OSZE-Beobachter in ihre Basen zurückgekehrt sind. Ein Rhythmus, nach dem sich das Leben in Marinka mittlerweile richtet: Am späten Nachmittag sind die Straßen von Marinka wie leergefegt, die wenigen Geschäfte, die noch in Betrieb sind, geschlossen. Nach der Schule möchten Lisa und Dascha weg aus Marinka, weg von der Front und vom Krieg. Wenngleich in entgegengesetzte Richtungen: Lisa möchte Biologielehrerin werden und in Dnipropetrowsk studieren, der nächstgelegenen Großstadt im ukrainisch kontrollierten Gebiet. Dascha möchte Anwältin werden. Allerdings in Donezk – auf der anderen Seite der Front. (Simone Brunner aus Marinka, 12.10.2016)