Troubadour mit E-Gitarre: Bob Dylan.

Foto: Sony/Don Hunstein

Der Buchhandel sitzt in der Ecke und weint. Oder er steht zumindest bedrückt daneben. Denn das Komitee zur Vergabe des Literaturnobelpreises hat ihm heuer die kalte Schulter gezeigt und statt eines Prosaschreibers, Lyrikers oder (selten genug) Dramatikers Bob Dylan auserkoren. Den Singer-Songwriter. Bisher hatte der prestigeträchtigste Literaturpreis der Welt ihm immer ein Zubrot verschafft. Ebenso den jeweiligen Verlagen auch der internationalen Übersetzungen des Gewinners. Viele Titel sind überhaupt nur wegen dieser Anerkennung übersetzt worden.

Aber solch ein ökonomisches Kriterium ist kein adäquates, um die Auszeichnung Dylans zu kritisieren, wie es seit der Bekanntgabe am Donnerstag vonseiten mancher aus dem Literaturbetrieb und in den sozialen Medien geschieht. Ja, Preise können und sollen zwar Geld und Aufmerksamkeit für Autoren generieren – Dylan braucht beides nicht mehr. Aber der Nobelpreis ist seinem Wesen nach nicht karitativ. Es ist nicht seine Aufgabe, Verkaufszahlen hochzutreiben. Er soll nicht fördern, sondern "als Preis denen zugeteilt werden, die (...) der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben".

Youtube-Kanäle statt Gesamtausgabe

Dann wird heuer eben statt eine Gesamtausgabe gekauft sich durch einschlägige Youtube-Kanäle geklickt! Die Frage nach der Qualität des Ausgezeichneten – sie ist wie bei jeder Preisvergabe eine, die aber natürlich gestellt und gewälzt werden darf. Vieles ist schließlich auch Geschmackssache.

Dylan den Preis aber aus dem Grund nicht zu vergönnen, dass er kein "klassischer" Autor ist, sondern seine Texte mit Musik vorträgt, blickt zu kurz in die Geschichte. Und verschließt die Augen davor, dass etwa ein guter Teil der Mittelalterforschung in der Germanistik in der Beschäftigung mit Minnesängern besteht: Walther von der Vogelweide, Oswald von Wolkenstein – sie waren Troubadoure wie Dylan.

Ob man sie nun voneinander trennen kann, den Text und die Musik – nicht nur muss man es nicht, man soll den Dichter Dylan vom Tonsetzer Dylan gar nicht abspalten, um ihn auszeichnen zu können: Explizit verwies die Schwedische Akademie auf Dylans "poetische Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Gesangstradition". Die Auszeichnung setze gerade keine Erweiterung des Literaturbegriffs voraus, erklärte sie weiters und stellte in ihrer Begründung Dylan in eine Linie mit den antiken Epen.

Gesänge und Saiteninstrumente

Noch weiter zurück liegt der Ursprung der Dichtung nämlich in den Versen der Epen, die mit Homers "Ilias" und "Odyssee" zu den ältesten Zeugnissen dessen gehören, was wir heute als abendländische Literatur betrachten. Vorgetragen als Gesänge und begleitet von Saiteninstrumenten. Epik, Lyrik, Dramatik – in der Poetik des Aristoteles, in der Wiege der Literatur kommt der Roman noch gar nicht vor. Der entwickelte sich in einer uns bekannt vorkommenden Form erst in der Neuzeit.

Schon im Vorjahr hatte die Entscheidung aus Stockholm manch Literaturkritiker irritiert: Swetlana Alexijewitschs Werk sei dokumentarisch und eher Journalismus, nicht holde Literatur, hörte man da sagen. Dabei treffen die Statuten des Nobelpreises für Literatur keine klare Aussage bezüglich der Gattungszugehörigkeit des Auszuzeichnenden: ausgezeichnet werden solle ein Autor, "der in der Literatur das vorzüglichste Werk idealistischer Prägung geschaffen hat".

Die Zeiten, in denen sich die hohe Kunst auf ihr Prestige zurückziehen konnte, sind vorbei. Auch neue literarische Formen drängen nicht zuletzt zusammen mit sich wandelnden technischen Medien und Kanälen an uns heran, werden durch solche mitunter erst hervorgebracht. Den Begriff einer Facebook-Poetin hätte man vor ein paar Jahren wohl noch absurd gefunden. Nicht alles, was da kommt, mag von Bedeutung sein. Verschließt sich die "Community" solchen Entwicklungen aber, steht sie sich selbst und der Literatur im Weg.

"More misses than hits"

Daueraußenseiterfavorit Bob Dylan ist jetzt also Literaturnobelpreisträger. Wer dahinter Ungerechtigkeit oder Unangemessenheit gegenüber den "ernsthaften" Autoren dicker Wälzer wittert, der sei beruhigt – Preisentscheidungen sind selten fair. Und bei weitem nicht immer nachhaltig. Winston Churchill, 1953 mit selbiger Anerkennung ausgezeichnet, dürfte heute den wenigsten als Autor im Bewusstsein sein, seine literarische Arbeit kommende Generationen so wenig rühren wie die unsrige. "More misses than hits", kommentierte George Steiner 1984 in "The New York Times Book Review" denn auch die schwedische Vergabepraxis.

Mit Bob Dylan hat heuer ein musikalisches Sprachkunstwerk gewonnen, dem man eine "idealistische Prägung" gleich wie einen eigenen Stil kaum absprechen wird können. Diese Kür, sie ist eine kleine Sensation und eigentlich doch keine. (Michael Wurmitzer, 14.10.2016)