Holland ist für seine Tulpen und Käse bekannt. Auf der Frankfurter wird der Fokus auf die Vielfalt der flämischen und niederländischen Literatur gelegt.

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Auf Niederländisch, einer Sprache, in der prinzipiell alles "lekker" ist (wie z. B. Essen und Sex) darf das ruhig auch die Literatur sein, obwohl es dem lesenden Auge hierzulande etwas deutsch vorkommen mag. Denn trotz aller sonstigen Wissensdefizite – wie etwa, dass flämische Autoren nicht auf "Flämisch" schreiben, und zwar ebenso viel und ebenso wenig wie heimische Autorinnen "österreichisch" – scheint die Beliebtheit von Texten aus Holland und Flandern ungebrochen.

Die deutsche Erfolgsgeschichte der Literatur made in Dutch begann 1993 mit einem Schwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse, und auch dieses Jahr ist sie vom 19. bis zum 23. Oktober wieder "Ehrengast" dortselbst: Anlass dafür, rund 250 Übersetzungen auf den deutschen, österreichischen und Schweizer Markt zu werfen. Literarisch hat sich in den Niederlanden und Nordbelgien zwischenzeitlich einiges getan, wenn auch nicht unbedingt viel geändert. Trotzdem ist es – abseits von Käse, Fritten und Bier – abwechslungsreiche Kost.

Aus der Gründergeneration des großniederländischen Literaturwunders von 1993 – Harry Mulisch, Cees Noteboom, Leon de Winter, A. F. Th. van de Heijden, Hugo Claus, Maarten 't Hart, Margriet de Moor, Connie Palmen u. a. – sind mittlerweile einige gestorben, aber die meisten noch aktiv. Palmen etwa hat mit Du sagst es einen Roman über die Liebe zwischen Sylvia Plath und Ted Hughes vorgelegt, de Winter unter dem Titel Geronimo einen über Osama Bin Laden. Daneben haben die deutschen Verlage auch einiges für die Klassikerpflege getan und beispielsweise den unvergleichlichen Kummer von Belgien des Beinahe-Nobelpreisträgers Hugo Claus – eine Familiensaga über die dunklen Jahre der deutschen Besatzung 1939-45 – wiederaufgelegt. Oder eine Übersetzung von J. J. Voskuils Kultroman Das Büro (1996-2000), der in sieben Bänden und 5000 Seiten den Alltag im Amsterdamer Institut für Volkskunde beschreibt und in Holland ein wahres Lesefieber auslöste.

Leicht und humorvoll

Auch die Zwischengeneration der 40- und 50-Jährigen – quasi der Mittelfeldmotor des benachbarten Literaturbetriebs – gibt mit Arnon Grünberg, Edwin Mortier und anderen zur Buchmesse kräftige Lebenszeichen von sich. Etwa wenn Saskia de Coster Wir und ich (hervorragende Übersetzung: Isabel Hessel) ihre Leserschaft in ein belgisches Villenviertel mit altem Geld und neuen Problemen mitnimmt. Als Sippensaga gibt sich auch das Romandebüt Verlangen von Kris Van Steenberge – denn das Familienmodell ist von jeher sehr beliebt, vor allem in Belgien. Ganz frei davon ist auch der coole Nachwuchs wie Daan und Thomas Heerma van Voss, Wytske Versteeg, Joost de Vries und Niña Weijers nicht.

Gefragt nach dem Erfolgsrezept der niederländischsprachigen Literatur wird gerne angeführt, dass diese sich zeitnah der gesellschaftlichen Realität und der – auch in Belgien und Holland mitunter haarigen – Geschichte des 20. Jahrhunderts verschrieben hat, ohne "bedeutungsschwanger und schwerwiegend" daherzukommen (so der MDR). Prosa aus Holland und Belgien bleibt (scheinbar) leicht und humorvoll, selbst wenn es um unangenehme Themen wie den Holocaust geht. Dabei hat sie, wie der Aachener Literaturwissenschafter Stefan Wieczorek meint, ein Modell von realistischem als latent autobiografischem Schreiben entwickelt, das mit seiner Intimität bei Lesern und Leserinnen gut ankomme – auch jenseits der Grenzen.

Dass diese Literatur auch thematisch "schwierig", stilistisch widerständig bis experimentell und manchmal fast österreichisch-extrem in ihrer Antiverdrängungsarbeit sein kann, beweisen indes die Neuerscheinungen von Dimitri Verhulst, Jeroen Brouwers, Yves Petry und Peter Verhelst. Verhulsts Roman über den Verfall einer Familie trug den provozierenden Originaltitel Kaddisch für eine Fotze (als Fortsetzung von Die Beschissenheit der Dinge), was ein deutscher Verlag offenkundig erschrocken in Die Unerwünschten änderte. Petry wiederum wagt sich gleich In Paradisum beziehungsweise in den einvernehmlichen Kannibalismus zwischen zwei Männern. Verhelst rückt in Die Kunst des Verunglückens einen gewaltvollen Autounfall ins Zentrum, während Brouwers in Das Holz einem Missbrauchsfall im Knabeninternat erzählt.

Viele Texte, kaum Übersetzer

Nicht zu vergessen die umfangreiche postkoloniale und Migrationsliteratur in niederländischer Sprache, die sich in den letzten Jahrzehnten fest etablieren konnte. In Frankfurt vertreten sind etwa Maria Dermoût, Hella Haase, Fikry El Azzouzi, Mano Bouzamour, Kader Abdolah, Ilja Leonard Pfeijffer oder Tommy Wieringa. Die Verankerung des Genres ist ein nicht immer schmerzfreier Weckruf zur Erinnerung daran, dass sowohl Belgien als auch die Niederlande ehemalige Kolonialmächte und heutige Einwanderungsländer sind, mit gewaltigem Aufarbeitungspotenzial (Stichwort: Kongo, Indonesien), aber auch Ressentiments seitens einheimischer Islamisten und Rechtsradikaler. Ebenso wenig kann freilich die Frankfurter Buchmesse leugnen, dass vor Belgien – auch lange nach dem Tod von Tintin-Schöpfer Hergé – eine der Supermächte im Comics-Sektor weltweit geblieben ist.

In Summe ist das Großaufgebot der Texte beeindruckend, vor allem wenn man bedenkt, dass für Niederländisch nur rund ein Dutzend Übersetzer/innen einen festen Stand auf dem freien Markt hat (und gerade die sprachliche Nähe mitunter Dilettanten dort anzieht, wo man eigentlich Profis bräuchte). Bei der Frankfurter Übersetzungsorgie war es aber leider auch unvermeidlich, dass wichtige Namen unbedacht blieben: So wäre etwa – aus Belgien – den Erzählungen der feministischen Autorin Kristien Hemmerechts oder den Gesellschaftsromanen der preisgekrönten LGBT-Ikone Tom Lanoye (weiland gefeierter Theaterautor bei den Salzburger Festspielen) durchaus mehr Bekanntheit zu wünschen gewesen. Natürlich gibt es auch etliche sehr begabte frankofone Schriftsteller/innen, aber das steht auf einem anderen (belgischen) Blatt. (Clemens Ruthner, 15.10.2016)