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Autobiografisch oder nicht: Philipp Winkler schreibt in seinem Roman "Hool" über ein Leben im sozialen Brennpunkt.

Foto: dpa/Hendrik Schmidt

Wenn es in der Literatur ab und zu um das unterstellt wahre Leben geht, machen sich alle immer gleich vor Glück in die Hose. Zwar wird seitens der Kritik abseits der Ergebnisse von Schreibseminaren für Lehramtsstudenten mit viel Tagesfreizeit gern die viel beschworene "Welthaltigkeit", also das vermeintlich Authentische, Echte und Unverstellte, traditionell eingefordert.

Nicht immer nur Musenhain, Friedrichshain, Berghain und Bugaboo, Bartpflege und Bauchpinseln im postfaktischen Zeitalter verhandeln, sondern so richtig eine in die verschwitzte Proletarierfresse! Wie viel kostet ein Liter Milch? Welche Muckibude in der Stadt hat die günstigsten Angebote? An welchem Tag läuft Mallorca-Jens bei Vox im Hauptabend? Wow, Einkaufen beim Diskonter, wie ekelig ist das denn?! Gott, mich hat beim Lesen schon lange nicht mehr so gegruselt.

Gegen einen läppischen Taschenlampenthriller von Stephen King ist die Schilderung des gewöhnlichen mitteleuropäischen Alltagslebens eine wahre Horrorshow (ohne Zuwanderer- und Außenseiterthematik, das verhandeln wir in zwei, drei Jahren noch mal extra). Kennt man ja nicht. Will man auch nicht haben. Zuletzt schlug vor zehn Jahren dieser asoziale Ekel-Ossi mit den Tätowierungen wie eine Bombe im Betrieb ein. Als wir träumten, Clemens Meyer, Unterschicht. Scheißleben. Schlechte Zeiten, schlechter Sex. Keine Perspektiven, Hoffnungslosigkeit pur. Igitt, ist das geil! Es ist irgendwie so ... "real". Die Kulturtrullas japsten vor Glück.

Sozialer Brennpunkt

Der zeitgleich mit der Frankfurter Buchmesse vergebene Deutsche Buchpreis braucht natürlich das wahre Leben wie einen Bissen vorgeschnittenes Gummibrot aus dem Pennymarkt. Wir alle wollen zwischendurch nicht nur lesen, wie Benjamin von Stuckrad-Barre einmal im Grill Royal in Mitte zusammenklappt ist und ihm dann Udo Lindenberg oder Thomas Glavinic oder wer bei Waldläufen weg vom Koks brachte. Ausnahmsweise darf es auch einmal um Leute gehen, die definitiv nicht lesen werden, was selten, aber doch über sie geschrieben wird.

Der junge deutsche Autor Philipp Winkler ist wieder einmal so ein Wahrhaftiger, der alle heiligen Zeiten kommt, um frisches Blut, echten Dreck und glaubhafte Unterschicht in die zeitgenössische Literatur zu bringen. Sein Debütroman Hool findet sich auf der Shortlist des Buchpreises. Die Kritik kriegt sich vor lauter Glück über das Leben eines fanatischen Fußballhooligans gar nicht ein. "Faszinierender Schrecken", "am Abgrund", "knallhart", "seine Gewalt ein stummer Schrei nach Liebe". Der Klappentext verspricht schon in der Erstauflage reichlich von einer Welt, in der wir am liebsten nicht leben möchten, vor der wir uns aber gern daheim auf dem Sofa gruseln.

An das werden sich jetzt viele ältere Leser erinnern: Der "Schrei nach Liebe", getarnt als Faustwatsche, ist eine Anspielung auf das 1993 veröffentlichte gleichnamige Anti-Nazi-Lied von Die Ärzte. Die Formulierung war damals allerdings mindestens ironisch gemeint. Das bedeutet, dass der am Buchdeckel auch Winklers "hoffnungslose Romantik" lobende Schriftstellerkollege Moritz Rinke Hool eigentlich unabsichtlich scheiße findet.

"Jojo, kannst du den Quark mal lassen jetzt? Du gehst mir auf den Piss!" Natürlich besteht immer die Möglichkeit, dass jemand außerhalb des bundesdeutschen Privatfernsehens und Serien wie Richter Alexander Hold, Der Blaulicht-Report oder Teenie-Mütter – Wenn Kinder Kinder kriegen, also draußen in den sozialen Brennpunkten Hannovers oder Braunschweigs, wirklich so spricht. Wirklich sicher kann man sich aber auch nicht sein.

Knallhart in die Fresse

Philipp Winkler, Jahrgang 1986, aufgewachsen in Hagenberg bei Hannover, studierte in Hildesheim Literarisches Schreiben. Er hat dann laut eigener Aussage ein Jahr lang "abgehartzt" und lebt heute in Leipzig. Das führt in der Rezeption des Romans zur ewigblöden Fragestellung, ob denn nun Winklers in guter alter Ich-Form mit dem Federkiel in der Faust niedergeschriebene Schilderungen aus dem Leben des in Hannover für seinen Verein, die Ehre, Treue und mehr Bier randalierenden Hooligans Heiko Kolbe nun auf autobiografischen Erfahrungen beruhe.

Als ob es einen Unterschied macht, ob ein junger deutscher Schriftsteller heutzutage autobiografisch ereignislos über sein Leben in Clubs, Cafés und im Internet schreibt oder sich fiktiv als Schulabbrecher aus dem Scherbenviertel mit anderen rassistischen Vollhorsten die kurzgeschorenen "Pimmelköpfe" für einen Provinzfußballverein einschlägt.

Sagen wir einmal so: Bloß weil hier ein junger Mann, dessen Mutter sich wegen des saufenden Vaters vertschüsst hat, im Fitnessstudio oder bei Hundekämpfen, im Fußballstadion und bei verabredeten Massenschlägereien in irgendwelchen Waldgebieten mehr im Leben steht, als ihm vielleicht lieb ist, muss das noch lange nicht auf Autobiografie beruhen.

"Die linke Hand voraus, greife ich nach dem Shirt des Typen und schwinge die rechte nach, die in vollem Umfang unter seiner Nase landet. Durch die Haut spüre ich seine Zahnreihen, und meine Finger tun augenblicklich weh. Ich zieh die Hand wieder weg. Er würgt. Vielleicht vor Schreck. Vielleicht vor Schmerz. Ich hab ihm die Oberlippe geteilt, und der schwere süßliche Geruch von austretendem Blut weht mir entgegen. Der Typ jault. Hält sich sein Maul und geht zu Boden ..."

Hool lässt den Leser ebenso wie seinen Protagonisten Heiko ratlos zurück. Die unterkomplexe Handlung mag zwar zur auch schon wieder seit ziemlich genau einigen Jahrzehnten durchdeklinierten Diskussion darüber führen, ob man in der Literatur etwas erfinden darf (Man darf, meine Meinung!). Viel mehr als Blut und Spiele und böse Wörter, die man in Zeitungen nicht schreiben sollte, sind dann aber in Hool auch nicht zu entdecken. (Christian Schachinger, 15.10.2016)