Der Nato-Beitritt Montenegros ist ein zentrales Thema im Wahlkampf. Beobachter glauben einerseits, dass sich nach einem Beitritt neue politische Möglichkeiten auftun könnten – zum Beispiel könnte Premier Đukanović seine Macht verlieren. Andererseits wird befürchtet, dass der Druck zur Umsetzung von Reformen abnimmt.

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Silvija hält ihre Hand wie eine Soldatin ans Kinn, ihre knallroten Lippen leuchten. "Es steht mir bis da her!", sagt sie mit einer Klarheit, die sogar den verregneten Oktobertag aufzurütteln scheint. Wer in Podgorica die Leute nach der Parlamentswahl am kommenden Sonntag fragt, bekommt oft nur ein Seufzen zu hören oder ein Augenrollen zu sehen. Die meisten Bürger wollen allerdings wählen gehen, weil sie wissen, dass das wichtig ist, um ihre Existenz zu retten. Silvija M., eine 40-jährige Englisch-Übersetzerin, sagt: "Die Existenzangst ist riesig."

Wer nicht Teil der Regierungspartei ist, hat praktisch kaum Chancen, einen Job zu bekommen. Familie, Freunde, ein Kreis von Abhängigen und Leibdienern der regierenden DPS sind fest in den Finanzgeschäften, im Tourismus, in der Justiz und in allen Behörden verankert. Der Chef Milo Đukanović ist überall. Offiziell wird seit Jahren so getan, als würde man diese Vetternwirtschaft bekämpfen. Doch auch nach vier Jahren EU-Verhandlungen ist die Stimmung im Keller, ein möglicher EU-Beitritt sorgt bei den meisten nur für Schulterzucken. Wer in Montenegro lebt, weiß, wie es tatsächlich um das Land bestellt ist, obwohl mehr als zwei Drittel der Verhandlungskapitel geöffnet wurden.

Arbeit wegen Treue zur Partei

"Das Erste, was ich ändern würde, wäre diese Loyalität", sagt die blasse Frau mit glattgekämmten hellen Haaren, die mit gelben Plastikstiefeln im Nieselregen steht. "Die Leute jammern immer nur, ändern nichts und sind gehorsam." Auf der anderen Seite versteht Silvija, dass die Leute Sorge um ihre Jobs haben. Glücklich machen sie diese Jobs freilich auch nicht. Wer in Montenegro Arbeit bekommt, hat das wohl nicht wegen seiner Leistung, sondern wegen seiner Parteitreue erreicht.

Die Montenegriner sind weit davon entfernt, Wutbürger zu sein, sie fühlen sich nicht einmal als Bürger, die offen reden können. "Bevor wir nicht einen echten Rechtsstaat haben, kann ich nicht mit Ihnen sprechen, weil ich Ihnen meinen Namen nicht verraten kann", sagt ein alter Herr, Spazierstock, rot unterlaufenes Auge, ein schönes Lächeln. "Wir sind Feiglinge, hier herrscht die Furcht", meint er leise und trippelt weiter. Die Gestaltbarkeit des Lebens endet hier spätestens bei den 490 Euro, die man im Durchschnitt verdient, wenn man einen Job hat. Die Arbeitslosenrate liegt bei etwa 19 Prozent.

Außenpolitische Ziele als Antrieb

Montenegro wurde insbesondere von den USA und der EU seit der Unabhängigkeit 2006 als Vorzeigemodell auf dem Balkan porträtiert. "Eigentlich war das nur wegen der außenpolitischen Ziele so", sagt Daliborka Uljarević vom Zentrum für zivile Bildung in Podgorica. "Alle Veränderungen wurden auch nur wegen dieser außenpolitischen Ziele erreicht und nicht wegen der transformativen Kraft der EU", so die Politikanalystin. "Ohne den Druck wegen des Nato-Beitritts hätten wir jetzt auch keine Verhaftungen, keine Antikorruptionsstrategie, keine neuen Gesetze", so Uljarević. Die außenpolitischen Ziele waren zunächst die Unabhängigkeit von der Staatenunion mit Serbien, dann das Erreichen des EU-Kandidatenstatus und nun die Nato-Mitgliedschaft.

Wegen der kommenden Nato-Mitgliedschaft machten vor allem die USA Druck. Kürzlich wurde einer der einflussreichsten DPS-Politiker, Svetozar Marović, wegen Korruption zu vier Jahren Haft verurteilt. Es ging um Baugeschäfte, die in der Region oft für Geldwäsche oder Parteienfinanzierung genutzt werden. Vanja Ćalović von der NGO Mans meint, dass es gut sei, wenn der Nato-Beitritt vorüber sei, weil sich dann neue politische Möglichkeiten auftun würden. Dann könnte vielleicht der Ex-Geheimdienstchef Duško Marković Đukanović als Regierungschef beerben, meint sie. "Andererseits gibt es nach dem Nato-Betritt natürlich nicht mehr diesen Druck, schnell Reformen zu umzusetzen."

In praktisch allen Balkanstaaten ist der Reformprozess im Rahmen der EU-Annäherung eingeschlafen, weil sich die lokalen politischen Eliten bewusst sind, dass es seitens der EU-Staaten und der EU-Bürger wenig bis gar kein Interesse an der Erweiterung gibt. Die Glaubwürdigkeit der EU hat sich angesichts des Umgangs mit Staaten wie Ungarn und der Türkei ohnehin verringert. Neben der EU-Delegation spielen die deutsche und die US-Botschaft in den Balkanstaaten oft eine maßgebliche Rolle. (Adelheid Wölfl aus Podgorica, 15.10.2016)