Kanadische Landschaften wie diese im Algonquin-Park machten der Maler Tom Thomson und die Künstlergruppe Group of Seven mit ihren Bildern populär.

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Einer der wichtigsten Beweggründe für die moderne kanadische Landschaftsmalerei soll der im Herbst stets farbenprächtige Indian Summer gewesen sein.

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Das Gemälde "The Pointers" ( 1916-1917) von Tom Thomson ...

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... und dessen Atelier in einer Holzhütte in der Nähe von Toronto.

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Mit großer Behutsamkeit, so, als wäre sie ein Heiligtum, hebt Sarah Stanners die Gitarre aus dem Koffer. Die polierte Front leuchtet im natürlichen Licht, das durch eine große Fensterfront in der McMichael Canadian Art Collection der kanadischen Provinz Ontario fällt. Der Sattel des Instruments ist einem Eisberg nachempfunden, die Kanten der üblicherweise runden Zarge erinnern an die Zacken einer Hochgebirgskette. Schräg über dem Gitarrenhals ragt ein zweiter, kürzerer aus dem Korpus hervor. Es ist ein ungewöhnliches, schönes Exemplar.

Wie das Instrument klingt, erfährt man nicht. Nie würde die quirlige Museumskuratorin es wagen, an ihm zu zupfen. Das dürfen nur Hohepriester wie der Folkmusiker Bruce Cockburn oder der Flamenco-Spezialist Jesse Cook, die kürzlich kamen, um das gute Stück einzuweihen. Es ist eine Sonderanfertigung von Linda Manzer, einer weltbekannten Gitarrenbauerin, die ihre Manufaktur im nahen Toronto hat. Ihre Rarität ist als Hommage an die Group of Seven konzipiert.

Kaum bekannt

Nur wenige in Europa haben von dieser Gruppe gehört, dennoch hat sie das künstlerische Selbstverständnis der Kanadier so stark geprägt, wie dies Kunstschaffende in kaum einem anderen Land zuwege gebracht haben. Jedes Kind kennt die Group of Seven in der Provinz Ontario – und den Maler, der die Gruppe wesentlich beeinflusste, aber nie Teil von ihr war: Tom Thomson. Im kommenden Jahr werden dem 1917 verstorbenen Künstler überall in Kanada Sonderausstellungen gewidmet sein.

Der Name der Gruppe bezieht sich auf die Anzahl der Mitglieder, Maler, die allesamt in Toronto wohnhaft waren und im Jahr 1920 ein gemeinsames Ziel formulierten: die Schönheit der kanadischen Landschaft auf Leinwände zu bannen und in der Stadt bekanntzumachen. Ihr impressionistischer Stil, in Europa längst ein alter Hut, überforderte damals die kanadische Kunstkritik. Hätte der damalige Direktor der Nationalgalerie in Ottawa, Eric Brown, den Wert der Bilder nicht erkannt, wer weiß, ob private Mäzene wie das Sammler-Ehepaar McMichael die Landschaftsmalerei auf das Podest der Nationalkunst gehoben hätten.

In den 1960er-Jahren stifteten die McMichaels ihre Sammlung der Provinz und machten damit aus ihrem Wohnhaus ein öffentliches Museum. Wer es von Toronto kommend besucht, der gelangt von einer industriell geprägten Zone der Stadt Vaughan zunächst in die pittoreske Siedlung Kleinburg und fährt dann in jenen Park ein, der den mehrfach erweiterten Museumsbau einer Oase gleich umschließt. In unmittelbarer Nähe zum Parkplatz befinden sich die Grabmäler von einigen Group-of-Seven-Mitgliedern, die bei den McMichaels regelmäßig zu Gast waren.

Reduktion

Ein Rundgang offenbart die künstlerische Stoßrichtung der Group of Seven: Schon bald nach der Formierung der Gruppe entwickelten sich ihre Künstler in unterschiedliche Richtungen, und sie schufen, ausgehend vom europäischen Ideal, etwas Neues. Lawren S. Harris' Landschaftsbilder etwa sind von einer großen Reduktion, motivisch wie technisch, geprägt. Glatte, fließende Linien ersetzen bei ihm die impressionistischen Pinselstriche. Werken wie Mt. Lefroy oder Icebergs Davis Straight (beide 1930) wohnt eine fesselnde Tiefe inne. Die Hauptmotive dieser beiden Bilder, Eisberge und ein Gletschergipfel, finden sich auch auf Manzers Gitarre.

Die Geschichte der Group of Seven fing, genau genommen, nicht in Toronto, sondern in einem Provinzpark an. Gleich zwei Eisenbahnstrecken führten vor einhundert Jahren durch Algonquin, eine riesige, dicht bewaldete Hügel-und-Seen-Landschaft, rund 200 Kilometer nördlich von Toronto. Zum einen war die Holzwirtschaft im großen Stil aufgeblüht, zum anderen erfreute sich die Oberschicht in Luxuslodges der guten Luft.

Farbenprächtiger Indian Summer

Die Eisenbahn hält in Algonquin heute nicht mehr, dafür durchschneidet der Highway 60 einen südlichen Abschnitt des Parks in einer Länge von mehr als 50 Kilometern. Er bildet die Schlagader eines touristisch entwickelten Korridors: Zu beiden Seiten der Straße weisen Schilder immer wieder auf Wanderrundgänge hin, es gibt ein Besucherzentrum, einige wenige Hotels und Campingplätze, ein Holzfällermuseum und eine Kunstgalerie, in der Bilder und Skulpturen lokaler Künstler verkauft werden – die ganz in der Tradition der Group of Seven stehen.

Einer der wichtigsten Beweggründe für die moderne kanadische Landschaftsmalerei soll der im Herbst stets farbenprächtige Indian Summer gewesen sein. Die Bilder vom verfärbten Laub wollte man in die Welt hinaustragen. Nun, Mitte Oktober, ist davon eine erste zarte Vorstellung zu sehen. Auch in Ontario war es im September zu warm, zu warm für diese Jahreszeit. Der Beginn des Indian Summer hat sich dadurch verzögert.

Früh am Morgen geht es mit dem Kanu auf die Wasserstraßen des Algonquin-Parks. Der Grund dafür heißt Tom Thomson – Einzelgänger, Autodidakt und Wegbereiter der Group of Seven. Vielen gilt er heute als das größte Kunstgenie des Landes, wobei sein früher Tod zweifellos zu seiner Mystifizierung beigetragen hat: 1917 verschwand er während eines Kanuausflugs im Algonquin spurlos. Eine Woche später wurde sein Leichnam im Canoe Lake gefunden.

Aus der Kanuperspektive

Fest steht, dass dieser Maler in einer kurzen Phase Werke schuf, die allesamt einen prominenten Platz in der internationalen Kunstgeschichte verdient hätten, wie Jack Pine (1917, National Gallery of Canada, Ottawa) oder West Wind (1917, Art Gallery of Ontario, Toronto). Er war es, der seine Kollegen auf den Algonquin-Park aufmerksam machte, hier verbrachte er Wochen, Monate, und stets war er mit dem Kanu unterwegs. Seine Bilder weisen häufig die Kanuperspektive auf.

Das Kanu ist in Ermangelung von Straßen in weiten Teilen des fast 8.000 Quadratkilometer großen Nationalparks neben dem Wasserflugzeug auch heute noch das sinnvollste Fortbewegungsmittel. Mehr als vierhundert größere und insgesamt rund 2.500 Seen sowie zahlreiche Flüsse bilden ein Wegenetz von rund 2.000 Kilometern. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden erste Naturschutzmaßnahmen durch die kanadische Regierung ergriffen, 1893 wurde der Algonquin Provincial Park gegründet.

Gedämpfte Farben, weiche Kontraste

Nach tagelangem Sonnenschein regnet es an diesem Morgen unbarmherzig. Bei einem derartigen Wetter hätten Thomson und seine Kollegen nicht gemalt. Die Ölfarben, mit denen sie die Landschaften auf handlichen Holztafeln skizzierten, bevor sie die Motive daheim im Studio auf die Leinwand übertrugen, hätten sich mit den Regentropfen nicht vertragen.

Kanu-Guide Adam ist ein gemütlicher Typ, Mitte zwanzig, gepflegter Vollbart. Für ihn ist das unwirtliche Wetter kein Grund, die Fahrt abzublasen. Im Gegenteil: Bei dieser Witterung habe man das Wasser praktisch für sich allein. Er fährt voraus, den Costello Creek entlang, der vom Opeongo Lake südlich abzweigt und dessen Ufer von tausenden Seerosenblättern gesäumt werden, die wie Pinseltupfer auf den Gemälden von Thomson anmuten.

Der Maler und seine Kollegen haben vielleicht nicht bei Regen gemalt, sehr wohl aber haben sie Stimmungen festgehalten, die vom Ideal der sonnendurchfluteten Farbenpracht abwichen. Die gedämpften Farben, die weichen Kontraste und die durch das zarte Regenrauschen verstärkte scheinbare Einsamkeit machen Reisende noch heute glauben, Teil eines solchen Gemäldes geworden zu sein. Dennoch erscheint das ursprüngliche Reisemotiv, sich vor Ort in konkrete Gemälde hineinversetzen zu wollen, mit einem Mal naiv: Es geht in den Bildern nicht so sehr um die Verortung, sondern vielmehr um die ihnen innewohnende Atmosphäre.

Wenig Bewegung

Immer wieder wird man aus diesen Gemälden herausgerissen, etwa wenn für Sekundenbruchteile Forellenmäuler die Wasseroberfläche durchdringen und sich Insekten schnappen. Bewegliche Motive, wie Tiere oder Menschen, sieht man in den Werken der Group of Seven selten, aber manchmal doch: Hoch über den Baumwipfeln zieht schnatternd ein Schwarm von Kanadagänsen vorbei. Sie erinnern an eine Thomson-Ölskizze, die man in der McMichael-Sammlung sehen kann. "Die fliegen nach Florida oder nach Mexiko", sagt Adam.

Auf einer anderen Skizze hielt Thomson Elche in der Dämmerung fest, aber die zeigen sich nicht an diesem Tag. Dafür werden die Kanuten von einem Kanadareiher überrascht, der nur wenige Meter vor dem Bug nach Fischen schnappt. "So nahe kommt man denen selten, macht ein Foto!", sagt Adam mit gedämpfter Stimme. Doch der größte Reiher Nordamerikas mit einer Flügelspannweite von bis zwei Metern ist zu schnell für die Amateurfotografen. Da hatten es die Landschaftsmaler deutlich einfacher: erst memorieren, dann skizzieren und zu Hause fertigmalen.

Der Regen hat aufgehört, auf dem Rückweg blitzt die Sonne durch. Eine vierköpfige Familie paddelt vorbei, aufgeteilt auf zwei Kanus. Zuerst Vater und Sohn, dann mit einigem Abstand Mutter und Tochter. In breitem oberbayerischem Akzent gibt der Vater laut Anweisungen, der Erfolg bei den Manövern hält sich dennoch in Grenzen. Der breite Wasserkorridor des Parks, so scheint es, ist ein Quell für perfekte Familienidyllen. Tom Thomson, der Einzelgänger, würde heute vermutlich weiter nördlich malen. (Stephan Burianek, RONDO, 21.10.2016)