Wer innovativ sein will, müsse sich von der Vorstellung lösen, dass alles plan- und kontrollierbar ist, sagt Forscherin Asta Raami. Sie ist überzeugt: Intuition führt zu großen Ideen – und ist lernbar.

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Asta Raami hat für ihre Doktorarbeit an der Aalto-Universität in Helsinki zahlreiche Designer interviewt.

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Kreativität und Innovation sind gefragt, im Start-up wie im Großkonzern. Damit, wie sie entstehen können, beschäftigt sich die Wissenschafterin Asta Raami. Sie ist Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt für den Finnish Innovation Fund Sitra – eine vor rund 50 Jahren von der Regierung gegründete Organisation, die Konzepte für ein nachhaltiges, prosperierendes Finnland ausarbeitet.

Das Sitra-Büro befindet sich in einem Gebäude mit großen Glasfassaden im Westen Helsinkis. Ein karger Konferenzraum, spärlich eingerichtet mit modernen Möbeln in knalligen Farben. Typisches Start-up-Flair. Raami referiert hier an einem Vormittag im Oktober, bei Smoothie und Kaffee, vor Journalisten über ihr Forschungsthema. Auf ihrem ersten Slide prangt das englische Wort "intuition"- Intuition. Eine anerkannte Methode im Alltag: Intuitiv spürt man, welche Speise einem schmecken oder in welcher Wohnung man sich wohlfühlen wird – aber wie soll Intuition im Beruf helfen? "Sie ermöglicht es, auf verinnerlichte Erfahrungen und Hintergrundwissen zurückzugreifen, ohne gleich zu analysieren, zu klassifizieren und zu bewerten", sagt Raami. Die Bandbreite möglicher Lösungen werde dadurch erweitert, das Denken nicht sofort in die üblichen Bahnen gelenkt. "So entstehen radikale, bahnbrechende Ideen", sagt Raami, die für ihre Doktorarbeit an der Aalto-Universität in Helsinki Designer interviewte. Für deren Arbeit sei Intuition entscheidend.

Auch viele Erfinder setzen auf diese Methode. Albert Einstein etwa erschloss die spezielle Relativitätstheorie nach eigener Auskunft weitgehend intuitiv. "Intuition", so meinte er, "ist alles, was wirklich zählt." Und Freud-Schüler Carl Gustav Jung nannte diejenigen psychischen Funktionen, mit deren Hilfe sich der Mensch Wissen aneignet, "Intuieren" . "Das wirklich Neue kann nur durch Intuition kommen", ist auch der österreichische Quantenphysiker Anton Zeilinger überzeugt.

Die innere Stimme trainieren

Intuition bringe nicht nur gute Ideen, sie sei auch fundamental, um in einer immer komplexer werdenden Welt den Überblick zu behalten, sagt Wissenschafterin Raami. Um aktuelle politische, soziale und wirtschaftliche Probleme zu lösen, dürfe man sich nicht nur des bloßen Verstandes bedienen – zu groß sei die Gefahr, sich in der Menge an Informationen zu verlieren und den Blick auf das wirklich Wichtige einzubüßen. Der Schlüssel zur Bewältigung von Komplexität liege im Unbewussten. Dort werden nämlich viele wichtige Informationen hingeleitet, die der Mensch im Laufe des Alltags nicht sofort verarbeiten kann. Mithilfe dieses Wissens, auf das man in intuitiven Momenten zurückgreift, kann man neue Informationen besser filtern.

Momentan habe Intuition jedoch ein Legitimationsproblem, sagt Raami – Schlüsse, die auf mageren Fakten beruhen, verunglimpfen Menschen gerne als willkürlich. Entscheidungen sollen – in der Wissenschaft wie im Geschäftsleben – stets begründbar sein. Und Intuition kann man selten begründen. Raami bringt das Beispiel eines renommierten Chirurgen, der seinen Lehrstuhl an der Universität aufgeben musste, weil er seine Methode, nach der er Patienten behandelte, nicht erklären konnte – er habe einfach gewusst, was richtig ist.

Das Gehirn habe viele Bereiche, die sich einer formalen Beschreibung – zum Beispiel durch Sprache – entziehen. In ihnen seien aber wichtige Informationen gespeichert. Raami plädiert daher dafür, neben analytischem Denken auch Intuition an Schulen und Universitäten zu lehren. "Um zu guten Resultaten zu führen, muss sie entwickelt, geübt und ganz bewusst eingesetzt werden." In Finnland sei das Thema bereits im nationalen Bildungsplan, an dem Schulen ihren Unterricht ausrichten, festgeschrieben. Wie einschlägige Fächer dann tatsächlich in die Lehrpraxis integriert werden können, beforscht die Wissenschafterin. Aber wie lässt sich Intuition überhaupt trainieren?

Loslassen statt kontrollieren

Zunächst brauche es dafür unterstützende Lehrer, Chefs oder Kollegen, eine angstfreie Umgebung, sagt Raami. Dann folge die Arbeit an sich selbst: Wer selbstsicher ist, vertraue eigenen Einfällen eher, auch wenn sie nicht rational begründbar sind. Zweifel, Angst vor Versagen und Engstirnigkeit blockieren Kreativität – Sensibilität und Offenheit fördern sie, sagt die Expertin. Wichtig sei auch, Intuition von persönlichen Vorurteilen und Erfahrungen unterscheiden zu lernen, dafür gebe es Techniken.

Um seine innere Stimme besser nutzen zu können, müsse man sich zudem von gewohnten Mustern zur Ideenfindung verabschieden. "Intuition ist kein lineares Denken. Manchmal erscheinen Einfälle auf den ersten Blick verrückt oder sinnlos", sagt Raami. Intuition führe eben nicht unmittelbar zu verwertbaren Lösungen.

Ebenfalls trainierbar sei, intuitive Signale besser wahrzunehmen; dabei helfen könnten Meditation oder Achtsamkeitstraining. Auch monotone, physische Tätigkeiten wie Laufen oder Schwimmen fördern Spontaneinfälle.

Wer innovativ sein will, müsse sich schließlich auch von der Vorstellung lösen, dass alles plan- und kontrollierbar ist, sagt die Forscherin – und bringt ein Beispiel aus dem Alltag: Wenn man seinen Schlüssel nicht findet, überlegt man üblicherweise zunächst intensiv, wo man ihn hingelegt hat. Man sucht in der Jackentasche, in der Schreibtischlade, weitet möglicherweise den Suchkreis aus, um dann wieder von vorn zu beginnen und erneut dort zu suchen, wo man zuerst nachgesehen hat. Häufig ortet man den gesuchten Schlüssel jedoch erst, wenn man zu einer anderen Aufgabe wechselt. "Sobald man loslässt, ist die Antwort plötzlich da." Nicht zuletzt deshalb kämen einem gute Ideen oft in der Badewanne, im Bett oder im Bus. (Lisa Breit aus Helsinki, 28.10.2016)