Terézia Mora, "Die Liebe unter Aliens". Erzählungen. € 22,- / 272 Seiten. Luchterhand 2016

Cover: Luchterhand

Manche Menschen können nicht aufgeben, sollten es aber vielleicht. Andere tun es, ohne mit der Wimper zu zucken, und setzen damit ihr Leben aufs Spiel. Irgendwie steckt ein bisschen von beidem in jeder und jedem von uns, wie es die Protagonisten in Terézia Moras neuem Erzählband vor Augen führen.

Da ist der Marathonmann, ein älterer und wie alle Figuren im Band ein wenig gebrochen wirkender Herr, dem sein Plastiksackerl mit Geld und Schlüssel weggerissen wird. Es folgt ein Wettlauf zwischen ihm und dem Dieb bis in einen unbekannten Stadtteil hinein, wo der Marathonmann doch die Grenzen seines Bezirks sonst nie übertritt. Er kann nicht aufhören zu laufen. Und: "Er will seine Sachen wiederhaben, weil er sie braucht, um seine tägliche Routine aufrechtzuerhalten."

Die Routine hat Moras Protagonisten fest im Griff. So fest, dass ein Abwägen, wann es gut ist, aus einer auszubrechen, zum Gradmesser für einen sinnhaften Richtungswechsel im Leben wird. Nur wissen sie das nur mehr oder weniger, und so drohen sie oft genug zu fallen. Mal fallen sie schwer, mal nur sachte, manchmal auch gar nicht. Auch dem Marathonmann geht es so. Auf der Strecke ringt er mit seiner Durchhalteenergie, während er sich den Eindrücken des Stadtteils hingibt und nach Kilometern vergisst, worum es ihm eigentlich geht. Am Ende ist er physisch so geschwächt, dass die Erkenntnis, was es bedeutet, wenn ein Dieb einen Hausschlüssel besitzt, ihn bricht.

Leben im Griff

Die Liebe unter Aliens ist die traurige Geschichte von Tim. Auch er kann nicht aufhören zu lassen, woran er hängt. In diesem Fall ist das ein Mensch, seine Freundin Sandy. Tim ist Küchengehilfe, sie aber tut nichts, und existenziell ist es schwierig. Tims Chefin ist so gutmütig, den sensiblen Jungen in seiner seelischen Abhängigkeit von der Freundin zu unterstützen. Das hilft aber nichts, als Sandy auf einmal abhandenkommt auf dem Weg zum Meer, der ein Stück auf der beruflichen Strecke Tims und seiner Chefin verläuft. Diese nimmt Sandy im Wagen mit.

Das Meer, es steht wie für ein absolutes Ziel, erreicht Tim nur noch mit der Chefin, als sie später Sandy suchen müssen. Und dann verschwindet auch er. Womöglich sucht er allein weiter. Jedenfalls wurde ihr Handeln maßgeblich für ihn, nicht sein berufliches Ziel. Was nun ist hieran Alien-like? An einem absurden Ziel festzuhalten? Vernünftige Lebensentscheidungen in einem schwachen Moment nicht zu treffen? Ihre Teenagerliebe scheint wie die von Aliens. Die Außenwelt verliert an Relevanz, die innere, schwer nach äußeren Maßstäben reglementierbare Welt wühlt auf, und das Gleichgewicht mit den Erfordernissen, die es braucht, um sich im Griff zu haben, wird nur gehalten, wenn das Umfeld mitspielt.

Ein Gegenentwurf zum Alien-Leben könnte eines im Perpetuum mobile sein. Ein solches Gerät könnte sich ohne Energiezufuhr am Leben erhalten. Es ist die gleichlautende Erzählung um Tom, der sein Leben im Griff hat und sich nur auf gedanklicher Ebene belanglos aus seiner Alltagsroutine entfernt, die uns aber ebenso rührt wie das Scheitern. Toms Leben als Krankenpfleger wirkt etwas trostlos. Am Ende mag man sich fragen, ob er sich traut, glücklich zu sein. Und auch das wirkt befremdlich. In diesem Sinn sind alle Figuren in Moras Erzählungen mehr oder weniger Aliens.

Wenn aber alle Aliens sind, ist es keiner, und ein Perpetuum mobile ist eine Fiktion. Wenn keiner immer rational handelt, ist Scheitern nur menschlich. Worauf es ankommt, ist die Perspektive. Mora hat die stilistische Eigenart, die Perspektiven ihrer Figuren zuweilen geschickt mit jener der Erzählerin und damit auch des Lesers zu verbinden, indem sie innerhalb einer Geschichte immer wieder unvermutet von jener der ersten Person der Figur zur dritten Person der Erzählerin und umgekehrt oder auch einmal in die zweite Person Plural (die Erzählerin und wir) wechselt, wodurch der Leser hin und wieder die Distanz verliert und sich einfühlen kann. Die Handlungsmotive wirken auf diese Weise nachvollziehbar, nicht eben nur noch befremdlich. Sie sind es, die den Ablauf des Alltags überhaupt erst bestimmen. Den Alltag hat Mora auf leichte Art literarisiert. Er ist bestimmt von Routinen und den kleinen Momenten des ganz nahen Glücks in der Stadt, bei den Nachbarn oder in der Natur. Der Alltag wirkt nicht erhaben – und eben daher auch nicht banal. Mora zeichnet ihn als das, was er ist. Unprätentiös, ohne Pathos, eine Infrastruktur gebend im subjektiv eingerichteten Leben.

Dessen Leitmotiv lautet, glücklich zu sein. Die "Bewegungen des Glücks", wie es in Ella Lamb in Mullingar heißt, aus denen man wieder herausgerissen wird und sich dagegen stemmt, entweder unvernünftig oder vernünftig, sind es, die die Geschichten charakterisieren. Ella ist eine junge, alleinerziehende Mutter in Ausbildung zur Fotografin. Sie kämpft damit, ihr Kind unter der Woche bei den Eltern auf dem Land lassen zu müssen, richtet sich Stück für Stück in der Stadt ein und schafft es mit ein paar Schwankungen, sich zu behaupten und zum richtigen Zeitpunkt den Sohn mitzunehmen. Glück ist wie warmes Badewasser, in das man sich temporär hineinlässt, weiß Ella, wogegen Sandys Wunsch nach dem Meer wie ein unerhörtes Versprechen anmutet. Tom im Perpetuum mobile lässt sich nur retrospektiv in der Erinnerung an seine Kindheit kurz aus dem Alltag reißen, bewegen tut er sich nicht mehr. Die geistigen wie physischen Bewegungen der Protagonisten machen das Maß an Energie erforderlich, um gut zu überleben.

Diese Leute tun alle das, was sie brauchen, um sich wohlzufühlen. Manchmal ist dieser Moment kurz, zu kurz, manchmal lang, zu lang. Manchmal erfreuen sie sich an unscheinbaren Dingen, manchmal lernen sie erst, sich erfreuen zu können, manchmal erst, sich zu behaupten, manchmal verkennen sie ein größeres Glück. Manchmal sind es die Geschichten zu früh Gekommener, manchmal zu spät und oft auch gerade zurecht, anhand deren Mora uns darauf aufmerksam macht, dass das Glück in der Gesamtheit der kleinen Dinge und großen Entscheidungen liegt, nicht in einem von beiden. (Marietta Böning, Album, 25.10.2016)