Neue Belvedere-Chefin: Die Kunsthistorikerin Stella Rollig verlässt nach zwölf Jahren das Lentos Kunstmuseum. Sie tritt am 16. Jänner die Nachfolge von Agnes Husslein an.

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STANDARD: Ganz ehrlich: Hat Sie Ihre Bestellung an die Spitze des Belvedere überrascht? Immerhin kursierten im Vorfeld auch einige internationale Namen.

Rollig: International ist für sich allein kein Qualitätsnachweis. Aber verwundert ist das falsche Wort. Bis zuletzt waren vier Kandidaten im Rennen, und ich habe mir gesagt: "Stella, deine Chancen sind genau 25 Prozent."

STANDARD: Stimmt das Gerücht, dass Sie Bundeskanzler Christian Kern als Kulturministerin haben wollte, Sie aber abgelehnt haben?

Rollig: Das Gerücht kenne ich nicht.

STANDARD: Kulturminister Thomas Drozda hat gesagt, ihn habe vor allem Ihr Konzept überzeugt. Was sind dessen Eckpunkte ?

Rollig: Zum einen scheint mir, dass wir mehr über die Identität des Belvedere nachdenken müssen. Das Belvedere sollte ein Ort sein, an dem man über die österreichische kulturelle Identität im Zusammenhang mit Europa und selbstverständlich vor dem Hintergrund der globalisierten Welt nachdenkt. Der Frage nach dem "Wir" in diesem großen Umbruch, in dem sich die Welt derzeit befindet, sollte man mit Ausstellungen und Debatten im Belvedere nachgehen. Ich finde es interessant, nicht so sehr Prinz Eugen und die imperiale Geschichte in den Vordergrund zu stellen, wenngleich man darauf nie ganz verzichten wird, sondern ebenso zu erinnern, dass das Belvedere der Ort des Staatsvertrags war. Hier hieß es: "Österreich ist frei." Und dieser Begriff der Freiheit einer Nation muss in einer globalisierten Welt neu untersucht werden. Und, ja, das große museologische Thema einer Relektüre der Sammlung wird uns beschäftigen. Das Obere Belvedere ist prachtvoll mit seiner Sammlungspräsentation. Aber auch da wird man schauen, ob sich neue Schwerpunkte aus der Sammlung heraus ergeben.

STANDARD: Bedeutet das, Sie wollen das Belvedere ganz neu ausrichten?

Rollig: Zu Recht ist oft gesagt worden, dass Agnes Husslein das Belvedere großartig positioniert hat. Und auch das 21er-Haus ist von ihr dankens- und richtigerweise für österreichische Kunst von den 1960ern bis zur Gegenwart im internationalen Kontext eingeführt. Aber vielleicht wird eine Museumslinie deutlich, wenn man örtlich größere Klarheit schafft. Heute ist nicht ganz einsichtig, warum etwa Hubert Scheibl im Unteren Belvedere ausgestellt wird und eine Ausstellung über das Bett in der Kunstgeschichte im 21er-Haus stattfindet. Und es geht mir um Beruhigung, weil im 21er-Haus meines Erachtens nach zu viel Kleinteiliges stattfindet. Im Unteren Belvedere sollen weiterhin schwerpunktmäßig Ausstellungen stattfinden, die sich mit der Sammlungsgeschichte und Highlights von Wien um 1900 beschäftigen. Zu überlegen ist, ob man noch genauer schauen kann, wie sich damals Beziehungen zu anderen Kulturzentren im europäischen Raum gestaltet haben.

STANDARD: Bei der Pressekonferenz haben Sie auch von digitaler Offensive gesprochen. Was genau verstehen Sie darunter?

Rollig: Ausstellungsmachen im 21. Jahrhundert ist mehr noch als bisher eine Form der Wissensproduktion. Deren Vermittlung wird sich in Zukunft sehr stark verlagern, weil unser aller Leben von Medienkonsum und Konzentration auf mediale Inhalte bestimmt sein wird. Da müssen wir offensiv sein und Inhalte für den Onlinebetrieb machen. Dafür gibt es Vorbilder, etwa die Frankfurter Schirn unter Max Hollein, der jetzt in San Francisco ist, oder die Tate. Inhalte werden nicht nur im Sinn einer Servicierung der realen Besucherinnen und Besucher angeboten, sondern es bilden sich Communitys im Netz, die die Institutionen begleiten.

STANDARD: Wird das Museum als Ausstellungsort à la longue obsolet?

Rollig: Das glaube ich nicht, denn es gibt nichts Schöneres, als vor Originalgemälden zu stehen, diese Sehnsucht wird den Menschen nicht abhanden kommen. Aber wir alle – Museumsmacherinnen, Auftraggeber, Öffentlichkeit – müssen darüber nachdenken, wie wir den Erfolg für ein Museum bestimmen. Es wird vielleicht nicht nur zählen, wie viele Menschen real in eine Ausstellung kommen, sondern man wird auch all jene mitrechnen müssen, die ein Museum online besuchen. Da muss einiges neu gedacht werden.

STANDARD: Real ins Museum kommende Menschen zahlen Eintritt, Onlinebesucher nicht. Das ist eine fürs Budget also nicht ganz irrelevante Frage.

Rollig: Die Betrachtung, die unmittelbare Anschauung, die physische Begegnung mit einem Original kann ich nicht ersetzen. Ich bin mit vielen Museumsdenkern einer Meinung, dass ein Großteil der Menschen, die über Aktivitäten im Netz zum Museum kommen, es letztendlich auch real besuchen. Daher muss ein Museum auf möglichst vielen Plattformen präsent sein.

STANDARD: Ihre Vorgängerin hat die Besucherzahlen von 400.000 auf 1,4 Millionen gesteigert. Dagegen hieß es, im Lentos hätten von Jänner bis März nur 20 Vollzahler pro Tag das Museum besucht.

Rollig: Das stammt aus einer Argumentation der Linzer FPÖ. Offensichtlich – ob die 20 nun korrekt sind oder nicht – ist das eine tendenziöse Darstellung. Ganz bewusst ermöglichen wir im Sinn einer aufgeklärten, bildungsorientierten, inklusiven Museumspolitik möglichst vielen Menschen ermäßigten oder kostenlosen Eintritt. Mit dem Linzer Aktiv-Pass für finanziell Schwache bekommt man beispielsweise eine Ermäßigung. Und wir haben durchgesetzt, dass Schulklassen gratis kommen dürfen. Ich finde es absurd, diese Gruppen quasi für irrelevant zu erklären. Tatsache ist: Wir werden heuer etwas über 50.000 Besucher haben, das ist am unteren Ende unseres Zielkorridors. Aber im Kontext Linz durchaus respektabel.

STANDARD: Würden Sie für ein diskursives Programm im Belvedere einen Besucherrückgang in Kauf nehmen?

Rollig: Ich erwarte keinen Besucherrückgang. Das Obere Belvedere ist bummvoll, zu Recht, denn vor diesen fantastischen Bildern kann man nur staunen und glücklich sein. Ich habe nicht vor, Klimts Kuss abzuhängen. Ich bin ja nicht lebensmüde! (lacht)

STANDARD: Die Sammlungen des Belvedere beginnen mit dem Mittelalter und enden in der Gegenwart. Fehlt Ihnen da in manchen Bereichen nicht die Expertise?

Rollig: Keine Kunsthistorikerin ist Expertin für alle Epochen. Gerade im Belvedere mit dieser großen Bandbreite seiner Sammlungen wird sich wohl niemand finden, der für alles spezialisiert ist. Aber ich habe ein gutes Gespür dafür, was eine interessante Ausstellung ist. Und ich bin überzeugt, dass es im Belvedere ein ganz tolles Team an Ausstellungsmachern, Kuratorinnen, Wissenschaftern gibt. Gemeinsam werden wir Ausstellungen konzipieren, die dann vielleicht noch mehr Besucher haben, wer weiß?

Wichtig ist ein Bekenntnis zum Museum als Wissensspeicher. Und Haltung! Wir gehen in politisch und gesellschaftlich harte Zeiten, und ein Museum sollte der Ort sein, an dem Werte des gemeinsamen Zusammenlebens vermittelt werden. Natürlich verwechsle ich das Belvedere nicht mit einem radikalen kleinen Kunstverein. Aber man soll merken, welche Menschen hinter dem Haus stehen und es leiten.

STANDARD: Wertedebatte im Museum?

Rollig: Ja, es sind Werte des Humanismus, der Solidarität und Emanzipation, des Glaubens an Bildung und an Kunst. Die muss ich anhand der Themen vermitteln und auch dadurch, wie ein Haus geführt wird. Ich bin bekannt dafür, dass mich der Diskurs, die theoretische Auseinandersetzung, interessiert. Es werden im Belvedere auch Diskussionsveranstaltungen stattfinden, bei denen Stimmen von Minderheiten gehört werden. Diese Haltung wird man an der Zusammensetzung des Teams und an der Entscheidung für bestimmte Künstlerinnen und Künstler merken. Unsere Gesellschaft besteht nicht nur aus weißen, in Österreich geborenen, katholischen Menschen.

STANDARD: Ein großes Atout von Agnes Husslein sind ihre internationalen Verbindungen und Netzwerke. Einige Freunde und Sponsoren haben bereits ihre Unterstützungen aufgekündigt. Wie wollen Sie da agieren?

Rollig: Ums internationale Netzwerk mache ich mir keine Sorgen. Das Lentos hat in den vergangenen zwölf Jahren mit 35 internationalen Museen kooperiert und Projekte gemeinsam realisiert. Und man muss die Kirche im Dorf lassen. Wenn man das Budget anschaut, muss man keine Angst vor dem Untergang des Belvedere haben, wenn der eine oder andere Sponsor wegbricht. Partner zu finden ist ein ständiger Prozess.

STANDARD: Ihr künftiger kaufmännischer Direktor hat bei der Antrittspressekonferenz gesagt, er wolle den Eigendeckungsanteil steigern. Ziemlich ambitioniert, denn er ist bereits jetzt bei 60 Prozent. Zum Vergleich: Beim Kunsthistorischen Museum liegt der Eigendeckungsanteil bei 40 Prozent.

Rollig: Dieses Zitat wurde Wolfgang Bergmann nach der Pressekonferenz zugeschrieben. Ich habe es selbst nicht gehört, darüber muss ich mit ihm erst reden. Es stimmt, der Eigendeckungsanteil ist extrem hoch.

STANDARD: Was halten Sie von den Neuordnungsplänen für die Bundesmuseen, die Ihr ehemaliger Mitstreiter und Kollege Wolfgang Zinggl, Kultursprecher der Grünen, fordert?

Rollig: Von einer Neuordnung der Sammlungen halte ich nichts. Man kann nicht zum Teil über Jahrhunderte gewachsene Sammlungen auseinanderdividieren. Das ist auch logistisch gar nicht möglich oder ein so hoher personeller und finanzieller Aufwand, dass das Ergebnis in keiner vertretbaren Relation steht. Dass es besserer Absprachen zwischen den Direktoren bedarf, ist klar. Aber eine Zentralsteuerung, was welches Museum sammeln oder ausstellen darf, halte ich weder für produktiv noch für realistisch noch für schön.

STANDARD: Wie viele Künstler haben sich seit Ihrer Bestellung schon gemeldet?

Rollig: (lacht) Ich habe noch nie so viele E-Mails, SMS, Whatsapp-Nachrichten und Anrufe gekriegt wie in der letzten Woche. Und, ja, es waren viele Künstlerinnen und Künstler dabei.

STANDARD: Zum Abschluss eine Frage, die in den sozialen Netzen diskutiert wurde: Müssen die Wiener Linien ihre Durchsagen verändern? Denn Sie sprechen Belvedere ohne "e" am Schluss aus.

Rollig: Ja. Denn wir reden vom Belvedere – ohne Schluss-e –, wie es in Wien immer geheißen hat. (Andrea Schurian, 27.10.2016)