Foto: Dishonored 2

Als vor ungefähr einem Jahr "Fallout 4" veröffetlicht wurde, konnte der GameStandard bereits einen Tag vor Release sein Urteil über das heiß erwartete Rollenspiel abgeben. An dem Tag, an dem sich Spielerinnen und Spieler hoffnungsfroh in das verstrahlte Ödland aufmachten, habe ich mein Joypad erschöpft, aber zufrieden aus der Hand gelegt. Zehn Tage lang hatte ich vor Veröffentlichung Gelegenheit gehabt, das Mammutrollenspiel zu erforschen, um mir dann eine fundierte Meinung zu Stärken und Schwächen zu bilden und sie für die Leserinnen und Leser des GameStandards gegeneinander abzuwägen.

Damit ist ab sofort Schluss: Wie Bethesda kürzlich bekanntgab, werde man damit aufhören, die Presse vor Release mit Rezensionsexemplaren seiner Spiele zu beschicken – in unmittelbarer Zukunft betrifft das "Dishonored 2" und "Skyrim Remastered". Als "Grund" nennt der Publisher den gelungenen Start von "Doom", bei dem ebenfalls so verfahren worden wäre. Gleichzeitig sendet Bethesda damit ein klares Signal aus, wie man sich die – kontrollierte – mediale Berichterstattung der Zukunft vorstellt. Eine Einstellung, mit der der Hersteller nicht lange alleine bleiben dürfte.

Sprachorgan der Hypemaschine

Das Ökosystem zwischen Spieleherstellern, Presse und Konsumenten ist historisch ziemlich speziell. Das Schlagwort "enthusiast press" beschreibt gut, wie das Selbstverständnis vieler Publikationen in den Anfängen, aber durchaus bis in die Gegenwart von einer Begeisterung für das eigene Medium getragen war, die immer wieder auch tatsächlicher Kritikfähigkeit im Wege stand. Als "Ausgleichsfaktor" diente der Mythos vom "objektiven Test", in dem vor allem in den Anfängen streng technisch, mit Zahlensystemen, Diagrammen und genauen Parametern, das Produkt geprüft wurde – ein Ansatz, der vor allem in der Frühzeit des Mediums sinnvoll war, der sich aber in den letzten Jahren, in denen Spiele sich zu komplexen Kulturgütern auf Augenhöhe mit anderen Medien weiterentwickelt haben, zunehmend als überholt herausstellt. Spiele sind 2016 mehr als Waschmaschinen, deren Funktionen unter Laborbedingungen durch Abhaken einer Tabelle beurteilt werden können.

Was sich in den 40 Jahren, in denen es Spielejournalismus gibt, zudem geändert hat, ist die Branche selbst. Hand in Hand mit den über sie berichtenden Medien hat das Milliardenbusiness eine geölte Hypemaschine aufgebaut, die von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt ist: Statt nur die fertigen Produkte zu "testen", wurde insbesondere die Fachpresse dank hochprofessioneller PR-Abteilungen der Industrie zum wichtigen Multiplikator. Preview-Events, tröpfchenweise Infohappen, Vorankündigungen, "exklusive" Einblicke und Interviewangebote sorgen für den in den letzten Jahren stetig anwachsenden Hype, der jedes große Spiel begleitet. Statt fundiert und kritisch über ein Spiel selbst berichten zu können, riskieren vor allem die spezialisierten Publikationen der Fachpresse, schon Monate vor Release zu reinen Überbringern von PR-Häppchen und so zum reinen Sprachorgan einer Hypemaschine zu werden – auch weil das Publikum es so will. Der Hype gehört für viele Spieler einfach dazu.

Ein Störenfried wird ausgeschaltet

Über das spezielle Verhältnis zwischen Hype und einem sich allzu gern hypen lassenden Spielepublikum in dieser Marketingblase habe ich heuer bereits einige Worte verloren – anlässlich der blendenden Feuerwerke, die die Branche auf ihren großen Messen veranstaltet. Und wie damals gesagt: "Dass dennoch kein Medium, das sich ernsthaft oder sogar nur oberflächlich mit Videospielen beschäftigt, auf Berichterstattung dazu verzichten kann, ist der cleveren Inszenierung und dem Showcharakter des choreografierten Hypes geschuldet."

In Zukunft, und das bedeutet Bethesdas aktuelle Entscheidung, soll die Spielepresse dem reibungslosen Marktstart nach all diesem langen Vorspiel nicht länger im Weg stehen. Statt die ungeduldigen Käufer womöglich durch Verweise auf Mängel oder nicht gehaltene Versprechen vom Kauf abhalten zu können, sollen die zukünftig erst einige Tage nach Release erscheinenden Kritiken den Theaterdonner des Veröffentlichungstermins nicht mehr stören dürfen. Bis die Fachpresse ihr Urteil über die großen Neuerscheinungen abgegeben hat, so das Kalkül, ist der Fehlkauf in vielen Fällen schon abgewickelt – und eine Rückgabe ist aus den bekannten Gründen meist schlicht nicht möglich. Der ausgestreckte Mittelfinger richtet sich somit eigentlich nicht an die Presse, sondern ans eigene Publikum.

Let’s Pay

Die Entmachtung einer kritischen Instanz geht mit der Aufwertung einer anderen Kultur einher: Let’s Player, YouTube-Stars und "Influencer" gewinnen durch ihr Format und den durch diese Politik begünstigten verstärkten Aktualitätsvorsprung massiv an Bedeutung – und schon jetzt werden sie von der Industrie heftig umworben und zum Teil lange vor anderen Publikationen mit Zugang zum Spiel belohnt. Dass diese Zusammenarbeit oft in strengen Verträgen zugunsten der Spielehersteller geregelt und schlicht bezahlt ist, ist im Bewusstsein der meisten Konsumenten noch nicht angekommen. Mit Journalismus hat diese ihn schrittweise verdrängende Form des Entertainments wenig zu tun. Eher mit Werbung: Fast ein Drittel aller YouTuber mit über 5000 Abonnenten gaben an, für Coverage eines Spiels Geld genommen zu haben. YouTube-Stars wie TotalBiscuit bestreiten übrigens nicht, sich von der Industrie direkt bezahlen zu lassen – er sei schließlich "kein Reviewer" und somit nicht an für die Presse geltende Richtlinien gebunden.

Dass die Spieleindustrie diese Art von Berichterstattung nun durch geänderte Regeln eher fördern will, leuchtet vom Geschäftsstandpunkt durchaus ein. Es gibt kein Anrecht für Journalisten, vorab Rezensionsexemplare zur Verfügung gestellt zu bekommen, ebensowenig wie Spielerinnen und Spieler ein Anrecht darauf haben, nicht die Katze im Sack zu kaufen. In Zukunft wird der Marktstart heiß ersehnter Spiele dann eben nicht von Analysen der Stärken und Schwächen eines Spiels begleitet werden, sondern vom Theaterdonner aus den ungestörten PR-Hypemaschinen sowie von begeisterten Let’s Playern, die ihre Zusammenarbeit mit ebendieser PR maximal im Kleingedruckten offenlegen – oder auch nicht.

Die Lösung wäre einfach

Natürlich ist es für Spielerinnen und Spieler trotzdem absolut einfach, dieser Falle zu entgehen. Wer trotz massiver Dauerbewerbung in Zukunft vermeiden will, sein Geld für technische Katastrophen wie der PC-Version von "Batman: Arkham Knight", Gurken wie "Homefront: The Revolution" oder vom Hype aufgeblasene Spiele wie "No Man’s Sky" auszugeben, kann sich wie bisher darauf verlassen, dass deren Schwächen in ausführlichen Kritiken und Rezensionen zur Sprache kommen. Der Unterschied: Die Warnung vor potenziellen Fehlkäufen erfolgt dann nicht mehr zum Release, sondern erst ein paar Tage später. Die Prüfung, nicht der PR zu glauben und reflexhaft einfach draufloszukaufen, muss dann jeder für sich bestehen.

Vielleicht entsteht aus dieser Änderung ja wider Erwarten auch etwas Gutes: eine Leserschaft, die sich des Werts fundierter Kritik wieder mehr bewusst wird. Schon bisher haben seriösere Publikationen eher auf Rezensionen am Releasetag verzichtet, wenn zuvor nicht ausreichend Zeit zur Verfügung stand. Auch wenn’s schwerfällt: Wer beim Spielekauf auf Nummer sicher gehen will, muss sich ab sofort in Geduld üben, wie bisher schon nicht vorbestellen (!) – und nicht reflexhaft am Releasetag kaufen. Don’t believe the hype. (Rainer Sigl, 28.10.2016)