Die deutsche Autorin Greta Taubert wollte wissen, was Zeitwohlstand ist und besuchte deswegen Menschen, die ihn leben. Sie wolle weg vom "Hamsterrad des Müssens, rein ins Karussell des Könnens". Ein wichtiges Element dafür sei das bedingungslose Grundeinkommen, auch damit beschäftigte Taubert sich während der Recherche für ihr Buch.

Foto: Stephan Pramme

STANDARD: Sie haben ein Jahr lang auf Jobanfragen mit einer freundlichen Absage reagiert und sich stattdessen Gedanken zum Thema Zeit gemacht. Ist jetzt wieder Alltagsstress angesagt?

Taubert: Eigentlich hat sich gar nicht so viel verändert. Ich sehe mich noch immer als Zeitwohlständlerin. Interessant war, dass die Lust am Arbeiten durch den bewussten Abstand gewachsen ist. Denn Zeitwohlständler oder Zeitmillionär zu sein hat nichts mit viel Freizeit zu tun, sondern damit, frei über seine Zeit zu verfügen. Dass das anstrengend sein kann, werden viele Rentner oder Arbeitslose bestätigen.

STANDARD: Mit faulem Herumliegen und Chillen war also nichts?

Taubert: Auch das habe ich versucht, hielt es aber nicht lange durch. Ich traf viele Menschen, die frei über ihre Zeit verfügen oder sich mit dem Thema auseinandersetzen. Am spannendsten war da sicher der Besuch eines anarchistischen Camps. Das war regelrecht erschreckend. Ein Leben ganz ohne Strukturen ist nichts für mich, das habe ich erkannt.

STANDARD: Wieso haben Sie denn überhaupt alles hingeschmissen und das Experiment gestartet? Als Freiberuflerin verfügten Sie ja bereits über Ihre eigene Zeit.

Taubert: Das stimmt teilweise. Aber als Freiberufler hat man dennoch stets eine Art innere Infrastruktur, man trägt ein Korsett und muss funktionieren, Aufträge einholen, Netzwerke knüpfen. Wenn man dieses Korsett ablegt, muss man sich erst mal damit auseinandersetzen, wie man eigentlich funktioniert.

STANDARD: Und wie funktionieren Sie?

Taubert: Ich habe zum Beispiel gemerkt, dass ich gegen 16 Uhr total unproduktiv bin. Es ergäbe also keinen Sinn, wenn ich einen Job habe, an dem ich bis 18 Uhr arbeite, weil ich zwei Stunden nichts schaffe. Ich habe außerdem lernen müssen, Nein zu sagen. Mir ist das zunächst sehr schwer gefallen. Im Normalfall tendieren wir ja dazu, es allen Recht machen zu wollen. Aber das Kürzertreten hat bei mir auch zu mehr Selbstvertrauen geführt, denke ich.

STANDARD: Sie hören also mehr auf das, was Sie wollen. Sind das Projekte für die Arbeit, ist es Zeit für Familie oder lange Reisen?

Taubert: Eine konkrete Antwort fällt mir da schwer. Ich denke, das Wichtigste ist für mich noch immer, der Logik des Kapitalismus die Idee des Momentalismus entgegenzusetzen. Ich will konkreten Momenten meine Leidenschaft widmen und dann ganz bei der Sache sein. Ob das ein Projekt für die Arbeit ist, der neue Gemeinschaftsgarten oder einfach ein intensives Gespräch mit jemandem.

STANDARD: Der Umstand, dass so viele Menschen in Ihrem Umfeld ihre Sätze mit "Ich muss noch ..." beginnen, war ein Auslöser, das Experiment zu starten.

Taubert: Genau. Keine Zeit zu haben gilt in manchen Kreisen ja regelrecht als Qualitätsmerkmal. Ich wollte dann Orte und Menschen besuchen, die diese Imperative des Müssens nicht leben. Die Freiheit zu haben, so zu leben und zu arbeiten, wie es mich erfüllt, ist meine Definition von Reichtum.

STANDARD: Sie werfen die Frage selbst auf: Muss man es sich nicht leisten können, so zu leben? Hippe Leute mit ordentlich Erspartem im Hintergrund sind in der Lage, aber die alleinerziehende Frau Mitte 50, die nicht mehr Vollzeit arbeiten will, wird es schwer haben.

Taubert: Ich fand deswegen die Auseinandersetzung mit dem bedingungslosen Grundeinkommen spannend. Für mich kann das ein Ermöglicher sein – Zeitwohlstand ist dann der Effekt. Die Gespräche mit Michael Bohmeyer, der via Crowdfunding regelmäßig Grundeinkommen verlost, haben mir gezeigt, dass viele Gewinner nicht nur herumsitzen. Sie reduzieren oft die Arbeitszeit, aber engagieren sich stattdessen freiwillig, pflegen Familienangehörige oder bilden sich weiter.

STANDARD: Eine Reduzierung der Arbeitszeit auf 30 Stunden wird nicht zuletzt deswegen seit Jahren diskutiert, weil dann auch mehr Arbeitskräfte eingesetzt werden können.

Taubert: Durch die vielen Krisen, die es momentan gibt – ob ökonomisch, sozial oder ökologisch -, wäre es sinnvoll, über einen neuen Wohlstandsbegriff nachzudenken. Da spielen die Faktoren Zeit und Arbeit natürlich eine Hauptrolle.

STANDARD: Also am besten: Alle Ihrem Beispiel folgen?

Taubert: Natürlich nicht. Wenn jemandem sein Job unglaublich viel Spaß bereitet und es ihm nichts ausmacht, von acht bis 19 Uhr im Büro zu sitzen, ist das ja okay. Aber wir sollten uns Gedanken machen über Zeit. Es geht nicht darum, alles hinzuschmeißen. In einem ersten Schritt könnte man Arbeitszeit reduzieren, kürzer treten. Wenn wir das gut finden, können wir es in den gesellschaftlichen Diskurs einspeisen, anderen davon erzählen. Aber ich sage nochmal: Man muss das nicht tun. Wir sind ja auch eine Gesellschaft voller postmoderner Alleswoller: spannender Job, aber auch Freizeit, Geld, aber auch Selbstbestimmung. Eine Anleitung zur Befreiung gibt es nicht.

STANDARD: Apropos Alleswoller: Sicherheit steht da ganz oben auf der Wunschliste vieler Menschen.

Taubert: Das kommt natürlich daher, dass man den Leuten einredet, was sie alles brauchen und was sie alles verlieren könnten. Hier in Leipzig sehe ich das ja an den wütenden Massen, die durch die Stadt ziehen. Statt Häuser anzuzünden, wütend und empört, könnte man aber auch mit Lust und Energie an Lösungen arbeiten. Ich habe so viele Menschen getroffen, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren: Rentner, Arbeitslose oder Menschen, die bewusst im Job kürzer treten, um Zeit für dieses Mitwirken zu haben.

STANDARD: Sie waren recht überrascht, dass sich Ihr Umfeld nicht über die Absagen und den neuen Lebensweg empört hat.

Taubert: Das stimmt. Aber ich lebe in Leipzig eigentlich in einer Straße voller Zeitmillionäre: Studierende, Selbstversorger, Künstler, Arbeitslose, Drogensüchtige: Von schlecht bis schön ist alles dicht beieinander. Die Stadt ist außerdem ein Ort, der dieses Tempo erlaubt. Sie ist nicht so hektisch wie Berlin, nicht so kapitalistisch wie München oder so geschäftig wie Frankfurt. Hier gibt es viele, die sich mit Postwachstum auseinandersetzen oder sich selbst verwirklichen wollen.

STANDARD: Es herrscht auch eine Wien sehr ähnliche Kaffeehauskultur, habe ich bei Ihnen gelernt.

Taubert: Ja, auch die Sachsen sind historisch große Kaffeetrinker. Das hat mit dem Coffee-to-go-Wahnsinn von heute nicht mehr viel zu tun. Der Kaffeebecher zum Mitnehmen ist eigentlich zum sichtbarsten Merkmal der gehetzten Gesellschaft geworden.

STANDARD: Für das Zeitmanagement sind die Becher doch super. Man ist schneller beim nächsten Meeting.

Taubert: Genau. Vielleicht predigen das ja auch die vielen Zeitmanager und Zeitcoaches da draußen. Wenn das Thema Zeit so optimiert angegangen wird, dann geht wirklich alles den Bach runter. Das sage ich auch immer denjenigen, die mich nach "fünf Schritten zum Zeitwohlstand" fragen. (lhag, 31.10..2016)