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Wenn man einander 18 Jahre lang fast jeden Tag hat, glaubt man, alle Zeit der Welt zu haben. Das ist ein Irrtum.

Foto: dpa/Holger Hollemann

Das Schreien und das Weinen blieben aus. Dafür ertönten Kirchenglocken. Um Punkt Mitternacht in einer Sommernacht kam meine zweite Tochter zur Welt. Die meisten Leute verbrachten ihre Abende damals vor Fernsehapparaten. Die Fußball-WM 1998 wartete darauf, von Frankreich gewonnen zu werden. Menschen verfolgten Spiele jubelnd oder fluchend. Meine Tochter machte kein Geräusch. Ich war irritiert, sah einen Bruchteil einer Sekunde oder eine halbe Ewigkeit das ernste Gesicht meiner Hebamme, den Blick, den sie dem Vater zuwarf, dann die Erleichterung: Das Baby war gesund, atmete und kuschelte sich gleich zu mir. Nur weinen wollte sie nicht. Dafür sah sie mit unglaublich großen Augen ins neue Licht.

Die Stimmung war gut

Sie hatte auch viel zu schauen. Ihre Geburt war durch Zufall zu einem Ereignis geworden, wie man es sich am Hofe Maria Theresias vorstellt. Anwesend waren: ihr Vater, eine Freundin ihrer Mutter, die Hebamme, ein tunesischer Arzt und Freund der Hebamme, der eine Geburt in Österreich erleben wollte, und der Arzt der Mutter, der in letzter Minute dazukam. Der Kreißsaal des Sanatoriums, in dem man sonst in beschaulicher Privatsphäre gebären kann, war zum Brechen voll. Die Männer gingen während des Abends manchmal in einen Nebenraum, um einen Blick auf das laufende Spiel zu werfen. "Courage, Courage!", rief mir der tunesische Arzt lachend zu, wenn die Wehen allzu heftig wurden. Die Stimmung war alles in allem wirklich gut.

Dann wurde es ruhig. Irgendwann muss sie wohl geweint haben, vielleicht als sie gewaschen, gewogen oder angezogen wurde. Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich nur mehr an ihre großen, dunklen Augen, ihren Geruch und wie sich ihr winziger Kopf an mich schmiegte. Wir wurden auf mein Zimmer gebracht, ich war viel schwächer als nach der Geburt meiner ältesten Tochter, obwohl beide Entbindungen gleich schnell und komplikationslos verlaufen waren. Ich hatte zu viel Blut verloren und war sehr müde. Mein Zeigefinger lag in ihrer kleinen Hand. Ihre winzigen Finger umfassten ihn. Ich wollte nur noch schlafen. Doch eine Krankenschwester sah nach mir – und dann wurde es hektisch.

Neben mir oder ganz weit weg wurde geflüstert und telefoniert. "Bitte, kommen Sie noch einmal zurück", hörte ich eine Krankenschwester ins Telefon zischen. Mein Arzt musste zum zweiten Mal in dieser Nacht ins Auto steigen. Ich verstand nicht, was los war. Man sagte mir, ich müsse in den OP gebracht und untersucht werden. Ich weigerte mich störrisch, sagte, ich wolle schlafen. Dann rollte man mich aus dem Zimmer, und mein Finger wurde der kleinen Hand entzogen. Da hörte ich sie zum ersten Mal weinen, zuerst leise, dann lauter und beeindruckend entschlossen. Ihr Vater blieb bei ihr, ich wollte trotzdem nicht aus dem Zimmer. Heute weiß ich, warum: Ich hatte die diffuse Angst, sie nie mehr wiederzusehen.

Unser erster Abschied

Das war unser erster kleiner Abschied. Natürlich sahen wir einander wieder. Ich musste etwas länger im Sanatorium bleiben, bekam Infusionen, aber alles war in Ordnung, sie blieb an meiner Seite. Ihre große Schwester kam uns besuchen und verliebte sich gleich in sie. Dreijährige wirken neben Neugeborenen plötzlich wie gütige alte Tanten.

Das Schweigen und das ruhige Absorbieren ihrer Umwelt sind ihr geblieben. Zumindest so lange, bis sie einen für ihre Schwester und mich oft zum Schreien komischen, trockenen Kommentar abgibt. Dass wir sie aufgrund ihrer großen Augen jahrelang liebevoll unseren Alien nannten, hat aber sicher nichts mit ihrem gegenwärtigen Interesse an Physik und Astronomie zu tun. Als ich sie neulich auf diesen Zufall aufmerksam machte, streckte sie ihren Zeigefinger wie ET gegen den Himmel und sagte: "Nach Hause telefonieren."

Ein unerwarteter Schmerz

Gestern ist sie ausgezogen. Zum Studium in eine andere Stadt, wie ihre Schwester vor ihr. Sicher hatten wir seit jener Nacht viele Abschiede. Sie verbrachte ganze Sommer in Kanada und den USA, entwickelte wie ihre Schwester und ich eine große Leidenschaft fürs Reisen. Zuletzt wanderte sie durch mehrere Nationalparks der USA und war oft tagelang ohne Netz und nicht erreichbar. Ein Härtetest für mich. Dass sie nun in eine andere Stadt zieht und jederzeit "nach Hause telefonieren kann", ist vergleichsweise leicht.

Aber nur vergleichsweise. Tatsächlich erlebe ich zum zweiten Mal in meinem Leben einen Trennungsschmerz, mit dem man nicht rechnet, wenn man ein Baby bekommt. Es ist leider beim zweiten Mal nicht leichter als beim ersten Mal.

Kein Grund zum Jammern

Kein Grund zum Jammern. Die beiden jungen Frauen wissen, was sie im Leben wollen, und verfolgen das, ohne sich dreinreden zu lassen. Alle Sorgen, die man sich gemacht hat in diesen 18 Jahren, sie liegen hinter einem. Auch wenn das mit den Sorgen nie aufhört: Es ist doch eigentlich alles gutgegangen. Am Abend nach ihrem Auszug schickte mir meine Tochter gestern ein Foto, das sie mit einem Smiley kommentierte. Es war eine Seite aus ihrem Freundschaftsbuch aus der Volksschule, das sie beim Siedeln gefunden hatte. Sie bat damals auch mich, mich dort einzutragen. Da stand unter dem Punkt "Mein Wunsch für die Zukunft" in meiner Handschrift: "Dass meine Töchter glückliche Erwachsene werden und auf mich stolz sein können."

Alles ist gut. Trotzdem heulte ich gleich wieder los. Das tat ich schon, als sie ihre Sachen zusammenpackte, als wir das letzte Mal zusammen fürs Abendessen einkauften oder sie das letzte Mal ihrem kleinen Bruder ein Gute-Nacht-Bussi gab. "Ich komm euch eh besuchen, und ihr mich", sagte sie. Ich weiß. Aber immer wieder überfällt mich die Gewissheit, dass hier ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen ist – unwiederbringlich. Wenn man einander 18 Jahre lang fast jeden Tag hat, glaubt man, alle Zeit der Welt zu haben. Das ist gut so, denn sonst könnte man nicht leben, lachen, streiten und lernen. Aber man hat nicht so viel Zeit mit seinen Kindern.

18 Jahre sind ein Wimpernschlag

Wenn ich frischgebackenen Eltern einen Rat geben müsste, wäre es der: Lehnt euch manchmal zurück und verschwendet einen Gedanken an die Zukunft. Egal wie müde ihr vom nächtlichen "Dienst" am Bett des zahnenden, fiebernden oder weinenden Babys seid, egal mit welchen Herausforderungen sie euch in der Pubertät an eure Grenzen treiben: Sie sind eigentlich nur einen kleinen Teil eures Lebens bei euch. Und, noch wichtiger: einen sehr kleinen, aber sehr wichtigen Teil ihres eigenen Lebens. "Wie ein Wimpernschlag" seien ihm die letzten 18 Jahre vorgekommen, sagt der Papa meiner Tochter. Es stimmt. Für sie waren diese Jahre aber ihr ganzes bisheriges Leben. Dabei beginnt das jetzt erst so richtig.

Aber wohin mit der Trauer? Es ist wie vor drei Jahren. Jene unter meinen lieben Freunden, die in den letzten Tagen versuchten, mir verbal eine Träne wegzuwischen, sagten Dinge wie: "Das ist der Lauf des Lebens. Sei froh, dass sie gesund ist. Du kannst stolz auf sie sein." Oder, der Klassiker: "Du hast ja eh noch eines zu Hause" (leicht variierend zu "Du hast ja noch zwei zu Hause" vor drei Jahren). "Ich zieh' einfach zu dir", scherzte eine Freundin, deren Söhne überhaupt keine Anstalten machen, bei ihr irgendwann auszuziehen. Da musste ich wenigstens lachen.

Man fragt sich zwischendurch, ob das normal ist, dass es eine derartig erwischt, wenn die Kinder wenig überraschend planmäßig die Schule fertig machen und ausziehen. Ist doch normal. Aber so traurig! Die wenigen Mütter und Väter in meinem Freundeskreis, die das schon erlebt haben, nicken nur still und wissend. Okay, es ist wohl normal.

Trauern erlaubt

Eine Freundin von mir, die beruflich Menschen beim Trauern begleitet, sagte mir neulich: "Es ist wichtig, dass man sich die Trauer nicht verbietet." Sie selbst hat in Graz studiert und ging danach zurück in ihre Heimatstadt Innsbruck – freiwillig, wegen eines Jobs und einer neuen Liebe. "Trotzdem habe ich um Graz getrauert und mich deswegen lange schlecht gefühlt", erzählte sie mir jetzt. Aber selbst wenn alles gut ist, darf man traurig sein. "Trauern ist erlaubt und wichtig", sagte sie. Das half mir mehr als alles andere, und ich platzte gleich wieder herzhaft los.

Mein kleiner Sohn trauert auch – und freut sich doch gleichzeitig über das größere Zimmer, das er jetzt bezieht. Er sagte oft, er werde natürlich "nie, niemals, nie von dir ausziehen". Seine Berufswünsche schwanken zwischen Detektiv, Geheimagent, Journalist und Bürgermeister von Graz. Eines weiß er aber genau: Er will seiner Mama ein Haus am Meer bauen und mit ihr dort wohnen.

Und ich bin mir sicher: In neun, spätestens zehn Jahren wird auch er ausziehen. Und ich werde weinen und hoffentlich wissen, dass alles gutgegangen ist. (Colette M. Schmidt, 31.10.2016)