Trofim Lyssenko surft posthum auf der Epigenetik-Welle mit, doch Loren Graham holt ihn in seinem neuen Buch vom ideologisch zurecht gezimmerten Surfbrett.

Loren Graham, "Lysenko's Ghost. Epigenetics and Russia". € 22,50 / 209 Seiten. Harvard Univ. Press, Cambridge 2016

Es gab wohl keinen Forscher, der in der kurzen Geschichte der Sowjetunion mehr Schaden anrichtete als Trofim Denissowitsch Lyssenko. Der 1898 geborene Agrarwissenschafter wurde unter Stalin ab 1935 zur Schlüsselfigur in der Biologie und sorgte sowohl in der Landwirtschaft wie auch in der Genetik für Katastrophen.

Lyssenko, der aus bäuerlichen Verhältnissen stammte, war von den neuen genetischen Erkenntnissen, die aus dem Westen kamen, ganz und gar nicht angetan, egal, ob sie von Gregor Mendel, August Weismann oder Thomas Hunt Morgan kamen. Er vertraute stattdessen auf eine krude Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften. Lyssenko behauptete vor allem, Winterweizen könne schon im Frühjahr reif werden, wenn die Samen längere Zeit bei niedrigen Temperaturen gelagert werden.

Verdammung der Genetik

Der Agronom nannte diese Methode, die im Westen längst unter einem anderen Namen bekannt war, "Vernalisation" und machte sie in den 1940er-Jahren zur offiziellen Wissenschaftsdoktrin. Die Genetik hingegen wurde in Bausch und Bogen verdammt. In der Landwirtschaft führte das zu Missernten, die letztlich Millionen Menschen verhungern ließen. In der Wissenschaft machte sich Lyssenko, der von Stalin protegiert wurde, an die Verfolgung der sowjetischen Genetiker.

Einige von ihnen, wie Theodosius Dobzhansky, waren schon zuvor in den Westen gegangen. Etliche andere wurden von Lyssenko in die Verbannung und in den Tod getrieben. Von diesem Schlag haben sich die Lebenswissenschaften in Russland lange nicht erholt – im Grunde bis heute, wie Loren Graham in seinem neuen Buch "Lysenko's Ghost" anschaulich und zugleich erschreckend zeigt.

Der emeritierte US-Wissenschaftshistoriker, der am MIT und an der Uni Harvard lehrte, ist einer der führenden Experten für Wissenschaft in Russland und der Sowjetunion. Graham hat Lyssenko selbst noch getroffen, der zwar ab 1953 von Nikita Chruschtschow kritisiert wurde, aber erst später auch offiziell der Betrügerei und Fälschungen überführt wurde, 1962 seinen Einfluss verlor, ehe er 1976 starb. Das Erstaunliche ist nun aber, dass Lyssenko in den letzten Jahren dank falsch verstandener epigenetischer Erkenntnisse eine fragwürdige Renaissance erlebte, die Graham am Ende seines schmalen, aber umso aufschlussreicheren Bands rekonstruiert und zu verstehen versucht.

Am Beginn rekapituliert er freilich zunächst kenntnisreich die Entwicklungen in der Biologie sowie der Eugenik in der Zwischenkriegszeit, ehe er sich eingehend und kritisch mit Lyssenkos Werk und Wirken befasst. Graham, der alle Texte des Agrarwissenschafters gelesen hat, lässt wissenschaftlich kein gutes Haar am Forscher – anders als im Fall von Paul Kammerer, dem auch ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Während der Wiener Biologe, der freilich auch die Entwicklungen der Genetik genau verfolgte, sich intensiv um eine Anwendung seiner Erkenntnisse auf den Menschen und für eugenische Fragen interessierte, war das Lyssenko erstaunlicher Weise völlig egal.

Pseudowissenschaftliche Rehabilitation

Im letzten Teil referiert Graham zunächst gekonnt die rezenten Erkenntnisse der Epigenetik und danach davon, wie der Lyssenko in den vergangenen Jahren und bedingt durch autoritäre Strömung im Russland Putins quasi wieder auferstand: Der ehedem verfemte Forscher wird wieder in kreationistischen Biologielehrbüchern der Kirche zitiert und von fragwürdigen Publizisten und Ideologen mit Verweis auf die Epigenetik pseudowissenschaftlich rehabilitiert. Umgekehrt leiden auch "richtige" Biologen darunter, die sich aus diesen Gründen schwer tun, sich mit der Epigenetik zu befassen.

Loren Graham findet für die seltsame Renaissance Trofim Lyssenkos unmissverständliche Worte. Und der Historiker macht damit klar, dass eine Aufgabe der Wissenschaftsgeschichte auch darin besteht, schlechte Forschung auch als solche zu benennen – und damit dem Geist Lyssenkos die ideologische Maske vom Kopf zu reißen. (Klaus Taschwer, 6.11.2016)