An der Südosttangente im dritten Wiener Gemeindebezirk steht ein hässliches Gebäude aus den 1980er-Jahren: das Österreichische Staatsarchiv, ein "Haus der Geschichte" der besonderen Art.

Aber der Schein trügt: Hier und in der Außenstelle "Haus-, Hof- und Staatsarchiv" in der Inneren Stadt (am Minoritenplatz, an der Rückseite des Bundeskanzleramtes) wird einer der größten Kulturschätze der Republik gehütet: etwa 200 Laufkilometer Archivgut, von der ältesten Urkunde aus dem Jahr 816 bis zu den jüngsten Aktenablieferungen der diversen Bundesbehörden.

Das Österreichische Staatsarchiv, das seit seiner Gründung im Jahr 1945 direkt dem Bundeskanzler untersteht, zählt zu den fünf bedeutendsten nationalen Archiven Europas, ja, im Hinblick auf den historischen Wert seiner Bestände, zu den wichtigsten Archiven der Welt.

Enormer Schatz

Es verwahrt nicht nur das Schriftgut der Ersten und der Zweiten Republik, sondern auch die enorm reichhaltige archivalische Hinterlassenschaft der Zentralbehörden der Habsburgermonarchie (1526–1918), des Kaiserhofes und des Heiligen Römischen Reichs (vom Mittelalter bis ins Jahr 1806).

Die europäische Geschichte, insbesondere die Geschichte Zentral- und Ostmitteleuropas, kann ohne Berücksichtigung der Schätze des Österreichischen Staatsarchivs nicht erforscht und geschrieben werden. Es ist eine Gedächtnisinstitution europäischen Formats.

Internationale Forscher

Entsprechend international ist das Forscherpublikum in den Lesesälen. Blickt man allerdings auf Personalstand und Budget des Staatsarchivs, drängt sich der Verdacht auf, dass der Bund das kulturelle Juwel und seine Hüter nicht wirklich zu schätzen weiß. Vielleicht ist eine wissenschaftliche Einrichtung beim Bundeskanzleramt aber auch einfach an der falschen Stelle "angedockt".

Dem Staatsarchiv droht, wenn man ersten Zeitungsmeldungen (im "Falter" Nummer 33/2016) glauben darf, in näherer Zukunft Ungemach, schlimmstenfalls sogar die Zerschlagung und der institutionelle Tod. Das Heeresgeschichtliche Museum, heißt es, hat Ansprüche auf die Militärakten der Habsburgermonarchie (Abteilung "Kriegsarchiv" des Österreichischen Staatsarchivs) sowie der Ersten und Zweiten Republik (in der Abteilung "Archiv der Republik" des Staatsarchivs) angemeldet, über die auch schon konkret zwischen Bundeskanzleramt und Verteidigungsministerium, dem das Heeresgeschichtliche Museum untersteht, verhandelt wurde.

Man hätte sich eine sofortige Zurückweisung dieses seltsamen und völlig sachfremden Ansinnens durch den Bundeskanzler erwartet. Denn die mutwillige Vermengung und Verschmelzung von ganz unterschiedlichen Gedächtnisinstitutionen und Vergangenheitsspeichern wie Bibliotheken, Museen und Archiven führt zwangsläufig zu einer Professionalisierungsreduktion.

Klotz am Bein

Wie es scheint, betrachtet das Bundeskanzleramt aber das Staatsarchiv weniger als zu hegenden Schatz denn als budgetären Klotz am Bein und sieht daher die Zerschlagung selbst womöglich nicht ungern. Sie lässt sich spätestens dann realisieren, wenn im Frühjahr 2017 der Vertrag des derzeitigen Generaldirektors des Staatsarchivs Wolfgang Maderthaner ausläuft.

Sind erst einmal große Teile von Personal und Beständen an das Heeresgeschichtliche Museum abgetreten (wobei die Frage der sachgerechten Aufbewahrung und der Benützbarkeit der Bestände im Arsenal wohl noch nicht geklärt ist), ist auch der "Rest" in seinem organisatorischen Bestand gefährdet. Für den verbleibenden Archiv-Torso kommt, wenn man Gerüchten trauen darf, die Österreichische Nationalbibliothek bzw. deren "Haus der Geschichte Österreich(s)" als Trägerinstitution infrage – sofern nicht andere Bundesministerien ebenfalls auf den Geschmack kommen, eigene Ressortarchive einzurichten und "ihre" Akten aus dem Staatsarchiv abzuziehen.

Chaotische Situation

Eine chaotische, für die historische Forschung völlig unzumutbare Situation totaler Überlieferungszersplitterung, die Österreich international nicht nur in Historikerkreisen dem Gespött preisgeben würde, wäre die Folge.

Die Folgerung kann nur lauten: Schluss mit derartigen absurden Sandkastenspielen! M. Christian Ortner, der dynamische Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums, liefert mit dem Werbeslogan seines Hauses, "Kriege gehören ins Museum!", selbst die Vorlage für die einzige vernünftige archivpolitische Maxime: "Akten gehören ins Archiv!" (Thomas Winkelbauer, 3.11.2016)