Die angeblich nötige Wiederherstellung parlamentarischer Souveränität gehörte im britischen Referendumskampf neben Immigrations- und Wirtschaftsfragen zu den Hauptargumenten der EU-Gegner. Insofern wirkte es von Anfang an kurios, dass die Regierung von Premierministerin Theresa May den Volksvertretern beider Kammern in Westminster ein Votum über den Brexit verweigern wollte. So gehe es nicht, hat nun der High Court entschieden – und damit der Regierungschefin ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt.

Tatsächlich machen May und ihre Mitstreiter seit Wochen alles falsch. Verteidigungsminister Michael Fallon stößt mit Veto-Drohungen jene Verbündeten vor den Kopf, die eine engere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene anpeilen. Innenministerin Amber Rudd stellt einen Plan zur Registrierung ausländischer Arbeitnehmer vor, der nach wütenden Protesten schon wenige Tage später zurückgezogen werden muss. Die Premierministerin selbst pocht auf die Geheimhaltung ihrer Verhandlungsstrategie und will das Parlament sogar an Debatten hindern, geschweige denn mitbestimmen lassen. Die plötzlich aufgewachte Labour-Opposition und nun auch das hohe Gericht haben ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Interessanterweise waren alle drei vor dem Referendum Befürworter der EU-Mitgliedschaft – wenn auch in Mays Fall nur sehr verhalten. Ob sie nun überkompensieren, um das mehrheitlich EU-feindliche Parteivolk bei Laune zu halten? Das wäre zwar nachvollziehbar, stellt aber keine Strategie verantwortungsvoller Staatsfrauen und -männer dar.

Ein vernünftiger Plan ist auch gut vier Monate nach der katastrophalen Fehlentscheidung vom 23. Juni nicht erkennbar. Gewiss hat Mays Vorgänger David Cameron seinem Land pfeifend einen Trümmerhaufen hinterlassen. Nicht zuletzt gab es keinerlei Planspiele dafür, wie sich die Insel nach 43-jähriger Mitgliedschaft aus der Union zurückziehen würde.

Insofern schien es nachvollziehbar, dass May sich einige Monate Zeit erbat und prominente Brexiteers aus ihrer Partei – David Davis, Liam Fox und Boris Johnson – mit jenen Fachministerien betraute, die den Austritt bewerkstelligen sollen. Dummerweise stellen sich die Herren als inkompetent heraus. Nicht zuletzt wirkt der ewige Spaßvogel Boris Johnson im Außenamt vollkommen überfordert.

Aufgeregte Kommentatoren brachten am Donnerstag ein Lieblingsthema von Westminster-Insidern aufs Tapet: Die Premierministerin könne sich durch Neuwahlen ein neues Brexit-Mandat erwerben. Abgesehen davon, dass ein neues Wahlgesetz diesen Weg deutlich steiniger macht als früher – ein Mandat wofür? Den Austritt aus dem Binnenmarkt ("hard brexit"), mit allen verheerenden Folgen für Schlüsselindustrien wie die Finanzbranche? Oder eine möglichst enge Verbindung mit dem Kontinent ("soft brexit"), was neue Milliardenüberweisungen nach Brüssel zur Folge hätte? Die Regierung weiß ja selbst nicht, was sie will. Woher soll dann das Volk wissen, welchem Projekt es da zustimmen würde?

Großbritannien wird die EU verlassen. Daran zu zweifeln ist auch nach dem spektakulären Urteilsspruch vom Donnerstag reines Wunschdenken. Immerhin könnte der brutale Nasenstüber May und ihr Team zu gründlicherer Arbeit und mehr Realismus verleiten. Wäre das die Konsequenz, hätten die hohen Richter dem Land einen großen Gefallen getan. (Sebastian Borger, 3.11.2016)