Ritva-Liisa Salmi (73) war Teil der Jury, die Jonatan Shaya (20) aus mehr als 300 anderen Bewerbern für ein Zimmer im Seniorenheim auswählte. Sie sei sich sofort sicher gewesen: "Jonatan ist ein super Typ."

Foto: Stadt Helsinki/Pertti Nisonen

Wer Jonatan Shaya besuchen will, muss von der Innenstadt mit der Metro fahren, dann noch mit dem Bus und zu Fuß ein Stück weiter. Auf Laajasalo, einer kleinen Insel im Südosten von Helsinki, befindet sich, versteckt zwischen Bäumen, das Senioren-Servicehaus Rudolf: Ein grauer 60er-Jahre-Bau mit engen, niedrigen Gängen. Die Wände sind verziert mit Mosaiken. Jedes Sofa schmückt ein Überwurf, sämtliche Ablageflächen sind mit Häkeldeckchen dekoriert. Eine Hausbewohnerin schiebt gebückt einen Rollator vor sich her. "Meine Freunde haben mich zuerst gefragt, ob ich eigentlich spinne, hierherzuziehen", sagt Shaya (20), gegelte Haare, ein Piercing im Ohr, eine Lederkette um den Hals.

An einer Pinnwand hängen Zeitungsartikel, die seine Geschichte erzählen. Sie zeigen, warum ein junger Mann sich dazu entschlossen hat, in ein Haus zu ziehen, in dem die meisten Bewohner über 70 Jahre alt sind.

Über 300 Interessenten

"A home that fits" heißt das von der Jugendabteilung der Stadt lancierte Projekt, das es zum Ziel hat, Jugendliche in Altenheimen wie dem Senioren-Servicehaus Rudolf unterzubringen. In Helsinki finden Junge nämlich nur schwer eine Wohnung. Die Mieten sind höher als etwa in New York. Mit den Preisen ist in den vergangenen Jahren auch die Obdachlosigkeit unter Jungen gestiegen. Mehr als 1000 unter 25-Jährige haben in Helsinki und Umgebung derzeit kein Dach über dem Kopf – während in den Altenheimen oft Zimmer leerstehen.

Im Senioren-Servicehaus Rudolf waren es drei. Diese inserierte die Heimleitung im Internet. Die Voraussetzungen für Bewerber: Sie mussten unter 26 Jahre alt sein und akuten Bedarf nach einer Wohnung haben. Aus mehr als 300 Interessenten wählte eine Jury aus Betreuern und Bewohnern drei "Youngsters" aus.

Shaya ist einer von ihnen. Er habe über Facebook von den freien Zimmern erfahren. Da er sich mitten in seiner Ausbildung zum Bäcker befand und seine Mutter aus der Stadt wegzog, habe er dringend eine Unterkunft gebraucht. Über 20 Anfragen habe er verschickt. Ohne Erfolg. Andere Wohnungen waren ihm zu teuer.

Wohnen in Helsinki ist teuer

Der Mietpreis für Einzimmerwohnungen beträgt in Helsinki rund 23 Euro pro Quadratmeter. Im Senioren-Servicehaus Rudolf zahlt Shaya nur 250 Euro pro Monat – für ein kleines Apartment mit 23 Quadratmetern mit Küche und Bad. Dafür muss er drei bis fünf Stunden in der Woche mit den älteren Bewohnern Zeit verbringen. Momentan sind es deutlich mehr.

Jeden Nachmittag besucht Shaya seine Nachbarin, die er beim Vornamen nennt: Taimi. Die beiden backen zusammen, sie erzählt ihm von früher, und er erzählt ihr von seinem Job. Seit er in der Bäckerei arbeitet, habe er leider weniger Zeit für Taimi, sagt der junge Mann.

Deshalb wäre es auch schön, wenn es mehr "Youngsters" gebe, sagt eine Bewohnerin, drei reichen schließlich nicht für 135 einsame Alte – und auch Shaya wünscht sich mehr gleichaltrige Mitbewohner. Dazu wird es vorerst aber nicht kommen, denn für mehr als drei Jugendliche ist momentan kein Platz im Haus, die restlichen Zimmer sind reserviert. Jedoch hoffen die Projektverantwortlichen, dass andere Heime nachziehen und ebenfalls Junge aufnehmen.

Sicher, aber zu ruhig

Über die Vorteile des Lebens im Altersheim spricht Shaya sichtlich gerne. "Ich fühle mich hier wohl und sicher", sagt er, und: "Ältere haben viel mehr Lebenserfahrung."

Ein Nachteil sei, dass es hier manchmal sehr ruhig ist. "Einmal hat jemand mit einem Gehstock an die Wand geklopft, als ich mitten am Nachmittag leise Musik gehört hab." Im Umfeld gibt es kein Kino, keine Bar, keine Disco. Außer der Ruhe sei auch mit der Gewissheit, "dass ein Mitbewohner am nächsten Tag einfach nicht mehr da sein könnte", nicht immer leicht zu leben.

Heime, in denen Jung und Alt Tür an Tür wohnen, gibt es auch andernorts, beispielsweise in den Niederlanden – wo auch die Stadt Helsinki Anleihe für ihre Idee nahm – oder in den deutschen Städten Hannover, Freiburg, Saarbrücken, Frankfurt und Köln. Dass sich generationenübergreifendes Wohnen in größerem Stil durchsetzen wird, glaubt Harry Gatterer, Forscher am Zukunftsinstitut und Experte für "New Living", trotzdem nicht: "Dass es so bald keine Altenheime, sondern nur noch Shared Places geben wird, ist unwahrscheinlich. Es verlangt eine Veränderung, wie wir das Wohnen denken. Dazu ist die Kultur noch nicht reif."

Für Jonatan Shaya ist das Zusammenleben mit Älteren jedenfalls schon zur Normalität geworden: "Mit ihnen hänge ich genauso ab wie mit meinen Freunden." (Lisa Breit aus Helsinki, 5.11.2016)