Echokammern: Peter Waterhouse

Foto: APA / Harald Minich

Liest man Peter Waterhouse, muss man sich darauf einstellen: Realien sind Illusionen, gemacht aus Wörtern. Es gibt zwar direkte Berührungspunkte zur Lebenswelt, zur Politik, zu trivialen Minutiae des Alltags. Doch aufgehoben und weitergetragen werden sie in Sprache. So auch in dem neuesten Prosaband Die Auswandernden des 1956 in Berlin geborenen, zweisprachig aufgewachsenen, über Paul Celan promovierten Autors, der in Wien lebt.

Der Ausgang hier: eine Infotafel am Einsiedlerplatz am Hundsturm in Wien. Ausführlich wird der trockene Text über einen 1936 fehlgehenden, in einem Totschlag endenden Raubüberfall auf einen Schuldiener und Geldkurier durchdacht, gedeutet, aufgefächert, vom berichtenden Ich und von Media, einer Asylwerberin, mutmaßlich aus Tschetschenien, die Deutsch lernt.

Somit greift Waterhouse, wie früher auch, einerseits ein hochpolitisches Thema auf, Flucht, Heimatverlust, Ankommen, die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Und überführt es anderseits in die Echokammern der Literatur. Interpunktiert es mit Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in denen es um die Flucht von Deutschen innerhalb Deutschlands vor den napoleonischen Truppen aus dem Linksrheinischen anno 1792 geht. Kontrastiert es mit der Verwaltungssprache und der ins grotesk Unpersönliche abstrahierten juridischen Terminologie. Und reflektiert es im Wortsinn mit der deutschen Sprache, ihren Eigenwilligkeiten, Eigenheiten, etymologischen Verwurzelungen und Wurzellosigkeiten.

Sprache als Tiefenbohrung

Diese machtvollen Sprachwolken kreisen in intensiver Korrespondenz um 58 doppelseitige, zwischen den Polen Dialog und Komplementarität sich verknäulende Farbabbildungen der Berliner Zeichnerin und langjährigen Kunstprofessorin Nanne Meyer. Im Zentrum steht: das Fehlen eines solchen. Bereits in seinem Gedichtband passim von 1986 stieß man auf ein zentrales Leitwort dieses Dichters, auf "Abwesenheit": "Der Name der Sprache heißt: Abwesenheit."

Abwesenheit begreift Waterhouse, dieser gelehrte Dichter, allerdings nicht als Verlust, Vakuum oder Leere. Vielmehr handelt es sich um das Gegenteil: um ein Zurückholen, eine Unterhaltung, ein Erinnern, um einen erinnernden Dialog. Mit Literatur. Mit Sprache. Vor allem aber durch Sprache als Tiefenbohrung und in assoziierender Anverwandlung.

In Die Auswandernden, einem Band, der ob der schönen Ausstattung und Gestaltung, des dicken, schweren Papiers und der schönen Typografie auch beim Wettbewerb der schönsten Bücher des Jahres eingereicht werden könnte, wird ausdauernd gefragt. Oft ballen sich die Fragesätze zu ausgreifenden Absätzen – was dann vor allem im letzten Sechstel rhetorisch ein wenig erwartbar und sacht überraschungsfrei wird.

Ganz am Schluss deponiert Waterhouse noch einen poetologischen Hinweis in eigener Sache, als er fünf Sätze aus der "Erkenntniskritischen Vorrede" von Walter Benjamins literarhistorischer Untersuchung Ursprung des deutschen Trauerspiels von 1925 zitiert. Über Darstellung als Umweg denkt der deutsche Feuilletonist und Geschichtsphilosoph da nach und über das stete Neuansetzen des Denkens, unablässiges Atemholen sei "die eigenste Daseinsform der Kontemplation"

Zeit-Aufgehobenheit

2010 hat am Ende des Prologs zum zentralen Kapitel Waterhouse in Der Honigverkäufer im Palastgarten und das Auditorium Maximum Gilbert Keith Chesterton zitiert. Der katholische Essayist hatte einst über Charles Dickens, den Romancier des Frühviktorianismus, der so anders war als er, Chesterton, – und über Dickens und die prägnanten Rätselhaftigkeiten, scheinbar klein, doch das Große ins Wanken bringend, in dessen Roman Eine Geschichte aus zwei Städten (1862) denkt Waterhouse auch in den Auswandernden klug nach -, geschrieben: "Unser Gedächtnis bewahrt niemals eine Tatsache, die wir bloß beobachtet haben; um sich einer Gegend immerdar erinnern zu können, muss man dort eine Stunde lang gelebt haben, und um irgendwo eine Stunde leben zu können, muss man für eine Stunde vergessen, wo man ist."

Zeit-Aufgehobenheit, das gilt auch für den zweiten neuen Band von Peter Waterhouse. Der Fink aus dem für seine bibliophile Reihe "Naturstudien" nicht genug zu preisenden Verlag Matthes & Seitz verheißt zwar eine zoologische Etüde. Der Untertitel "Einführung in das Federlesen" ist aber ein linguistisches Spiel mit der Publikumserwartung. Kein Birdwatcher-Report ist dies – vielmehr in vier Reden und Essays ein Nachdenken über Sprache, speziell die Sprache im Werk Friederike Mayröckers. Wie in ihrem Werk Dinge zu Bildern werden, in Metaphern verwandelt und verzaubert werden. Und dann gibt es, diese Hommagen und Lektüren ergänzend, als Coda eine kleine Betrachtung über den Buchstaben "s" in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen.

Entstanden ist dieser Text innerhalb eines von Waterhouse mitgegründeten Übersetzerlaboratoriums, und er ist eine direkte, jedoch schwergängigere direkte Verbindung zu den Auswandernden. (Alexander Kluy, 7.11.2016)